Auszug aus dem Buch

Abnehmen mit Attila

 

 

Abnehmen mit Attila

 

Gestern habe ich meine Waage gemordet.

Ich habe sie erdrückt.

Genau genommen war es ja ein tragischer Unfall.

Dennoch gibt es keine Entschuldigung für mich. Meine Waage hat mir zehn Jahre lang treu gedient – war also schon eine alte Dame – und ich hätte wissen müssen, dass sie dieser Belastung auf Dauer nicht gewachsen sein konnte.

Juristisch gesehen war es natürlich kein Mord – höchstens Totschlag. Und das wohl auch nur, wenn man bereit war, der Waage überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein oder eine Seele zuzugestehen. Ich bin geneigt das zu tun, denn der gequälte Schrei, mit dem sie ihr mechanisches Leben aushauchte, hatte etwas nur allzu Menschliches.

Ich schüttle verzweifelt den Kopf.

Wie habe ich die Zeichen übersehen können. Jedes Mal, wenn ich mich in den letzten Wochen auf sie stellte, kletterte der Zeiger um ein oder zwei Kilo höher. Die Waage kommentierte es stets mit einem verzweifelten Ächzen und Stöhnen. Aber ich war taub für ihre Klage. Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt – mit meiner unbändigen Fresslust und ihren Folgen, die ich lange nicht wahrhaben wollte.

Ich weiß noch, wie ich vor dem Spiegel stand und eine Weltklasse-Vorstellung in Sachen Verdrängung gab, die sich eigentlich Publikum verdient gehabt hätte. Ich zog den Bauch ein und hielt die Luft an. „Na, du siehst ja immer noch recht stattlich aus“, lobte ich mein Spiegelbild. Doch irgendwo in meinem Kopf flüsterte eine bösartige Stimme: „Ja – für ein Nilpferd.“

Ich ignorierte die Stimme. Was hätte ich ihr auch entgegnen sollen? Im Grunde wusste ich, dass sie Recht hatte. Mein Bauch wuchs scheinbar unaufhörlich. Und die Zeiten, da ich das Ding an mir ohne Spiegel betrachten konnte, waren längst vorbei. Die Anzeige der Waage vermochte ich auch nur noch zu erkennen, wenn ich mich so weit nach vorne beugte, dass ich fast schon umkippte. Genau so hatte ich es auch vor drei Tagen gemacht und verfolgt, wie der Zeiger auf der Skala unaufhaltsam nach oben kroch. Die Waage jaulte dabei regelrecht. Endlich pendelte sich der Zeiger bei 100 Kilo ein.

Mein erstickter Schreckenslaut wurde vom gequälten Ächzen der Waage locker übertönt. Und dann stieß sie eben jenen letzten, herzzerreißenden Schrei aus, der mich seither in meinen Träumen verfolgt, und gab den Geist auf.

Also wie ich es auch drehe und wende.

Ich bin schuldig.

Ich habe die Waage erdrückt.

Ich bestehe auf dieser Version.

Denn sie ist mir immer noch angenehmer als der Gedanke, dass die Waage vielleicht den Freitod gewählt haben könnte – weil sie mein Gewicht und meinen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Auch ich scheue ja zunehmend davor zurück, mich in den Spiegel zu schauen. Die Fettwülste rund um meinen Bauch bringen mich jedes Mal fast zum Heulen. Aber dann siegt meist der Trotz. „Ich bin rund – na und“, schleudere ich meinem Spiegelbild in einem Anflug von fast heiligem Zorn entgegen. Aber mein Übergewicht ist mir nicht egal – ganz und gar nicht. Und das tragische Ende meiner Waage gibt den Ausschlag. Im Angesicht ihrer leblosen Hülle hebe ich die Hand und schwöre feierlich: „Ab heute nehme ich ab!“

Danach fühle ich mich vollkommen erschöpft. Ich setze mich in meinen Lehnstuhl und hole mir eine Tafel Schokolade, die ich mir in drei großen Stücken in den Mund stopfe. Sie gibt mir die Energie zurück, die ich brauche, um über meinen guten Vorsatz nachzusinnen. Aber nur für kurze Zeit. Allein der Gedanke ans Fasten verursacht mir einen erneuten Schwächeanfall, den ich nur mit einer großen Schale Schlagobers, verfeinert mit drei Esslöffeln Staubzucker, auszugleichen vermag. Danach tut mir der Magen weh und mein schlechtes Gewissen quält mich.

„Du trittst das Andenken deiner Waage mit Füßen. Nicht einmal fünf Minuten hat deine Abmagerungskur gedauert, du verdammter Eidbrecher“, flüstert es mir zu.

Ich rülpse ergeben.

Mein Gewissen hat ja Recht.

Schuldbewusst schaue ich zur Waage hinüber, die leblos in ihrer Ecke liegt. Einer plötzlichen Eingebung folgend nehme ich sie und hänge sie an einen Nagel an der Wand des Wohnzimmers. Von nun an soll mir die Waage eine ständige Mahnung sein – quasi mein Gestalt gewordenes Gewissen.

Die Kraftanstrengung den Nagel in die Wand zu schlagen, hat mich wieder hungrig gemacht. Aber diesmal gebe ich nicht gleich klein bei. Nein, diesmal kämpfe ich. Schließlich bin ich nicht das hilflose Opfer meiner fleischlichen Lüste. In meinem Kopf wohnt ein klar denkender, logischer Verstand, der sich über die niedrigen Bedürfnisse des Körpers erheben kann.

Mein Wille ist stark.

Genau eine Minute lang.

Dann stürme ich wie ein Berserker zum Kühlschrank, reiße die Tür auf und stopfe mir das Erste in den Mund, was meine Hände zu fassen bekommen. Es ist ein großes Stück Speck. Ich kaue und kaue und das macht mich durstig. Um den Speck hinunter zu spülen, brauche ich eine Flasche Bier. Der Gerstensaft macht mich erneut hungrig.

Ich seufze – voll Selbstmitleid.

Ich bin in einem Teufelskreis gefangen, aus dem es kein Entrinnen gibt!

Als ich meinen Heißhunger endlich gestillt habe, ist der Kühlschrank leer und mein Bauch übervoll. Just in dem Moment fällt mein Blick wieder auf die Waage an der Wand.

Irgendwie bringt sie es fertig, unendlich kummervoll drein zu schauen.

Voller Reue schlage ich die Hände vor das Gesicht.

Ich wanke zum Bett und lasse mich schwer hineinfallen. Es ächzt protestierend – und einen Augenblick lang habe ich Angst, dass es unter meinem Gewicht zusammenbricht. Denn dann werde ich hilflos am Boden liegen und mich aus eigener Kraft nicht mehr erheben können. Ich müsste elendiglich verhungern und verdursten.

Ein schrecklicher Gedanke huscht mir durchs Hirn: Will das Bett vielleicht grausame Rache für die Waage an mir üben?

Aber nein. Es hält.

Doch bei jeder Bewegung, die ich mache, knarrt es herzzerreißend. Ich kann lange nicht einschlafen und als ich es dann doch tue, träume ich schlecht. Das ist keine Überraschung. Immer wenn ich zu viel gegessen habe, träume ich schlecht – und ich esse immer zu viel.

Doch so einen schlimmen Traum hatte ich noch nie.

Die Waage schwebt plötzlich über meinem Kopf. Sie ist durchsichtig, schimmert aber ein wenig grünlich und schaut schrecklich wütend aus. Ich beginne am ganzen Leib zu zittern.

„Versager“, schimpft mich der Geist.

Was soll ich ihm entgegnen? Er hat ja Recht.

„Du bist ein schwächlicher Wurm!“

Jetzt finde ich, dass der Geist der Waage übertreibt.

Wurm vielleicht, aber ganz bestimmt nicht schwächlich.

„Mit schwächlich meine ich nicht deinen Körper, sondern deinen Charakter, du Fettsack“, tobt der Geist.

Kann er meine Gedanken lesen?

„Natürlich kann ich deine Gedanken lesen – schließlich ist das ein Traum und ich bin noch dazu ein Geist“, schimpft die Waage, „was ich im Übrigen dir zu verdanken habe. Hättest du mich nicht in Ruhe sterben lassen können? Aber nein, du musstest diesen blödsinnigen Schwur leisten. Und jetzt bin ich dazu verdammt, auf der Erde herumzuirren, bist du dein Versprechen eingelöst und abgenommen hast. Erst an dem Tag, an dem du nur noch 75 Kilo wiegst, werde ich erlöst sein – und dorthin gehen können, wohin alle kaputten Waagen gehen!“

„Ins Altstoffsammelzentrum?“, frage ich interessiert.

Der Geist bekommt einen Tobsuchtsanfall.

„Nein, in den Himmel der Waagen. Dort liegen unsere fetten, verblichenen Besitzer am Boden und wir springen täglich auf ihnen herum. Aber hörst du mir überhaupt zu?“

Natürlich höre ich zu – so konzentriert man in einem Traum überhaupt jemandem zuhören kann. Außerdem macht mich das Zuhören hungrig. „Wie wäre es, wenn ich jetzt kurz aufwache, schnell einen Happen zu mir nehme und dann wieder weiterträume. Die Nacht ist lang und du hast dann noch immer genügend Zeit mich zu beschimpfen“, schlage ich der Waage vor.

Sie seufzt. Es klingt beinahe so verzweifelt wie ihr Todesschrei.

„Du bist ein hoffnungsloser Fall. Das habe ich schon immer gewusst. Aber leider bin ich auf dich angewiesen. Du musst abnehmen, sonst bleibe ich auf ewig ein Geist. Und weil ich schon geahnt habe, dass du das allein nicht schaffen wirst, habe ich dir Trainer besorgt. Du kennst doch sicher die Weihnachtsgeschichte 'A Christmas Carol' von Charles Dickens?“

Ich stöhne auf.

Auch das noch. Eine belesene Waage. Darum lagen also am Abend manchmal Bücher auf dem Fußboden im Badezimmer herum. Ich hatte mir bislang nie erklären können, wie sie da hinkamen. Die Waage muss untertags heimlich gelesen haben.

„Also: Es werden dich drei Geister heimsuchen“, fährt die Waage fort. „Sie werden dir beim Abnehmen helfen. Es sind die Besten, die ich in der Eile kriegen konnte. Ihre Methoden sind vielleicht etwas – wie soll ich sagen – unorthodox. Aber du brauchst ohnehin eine starke Hand. Ich kann dir nur raten, den Anweisungen der Geister genau Folge zu leisten. Im Gegensatz zu mir verstehen sie wenig Spaß.“

Der Geist kichert boshaft.

„Um Mitternacht wird der Erste zu dir kommen. Er wird dein Konditionstrainer sein“, sagt er. „Um ein Uhr wird der Zweite zu dir kommen – er wird dein Diätberater sein. Um zwei Uhr wird der Dritte zu dir kommen. Er … nun … das ist eine Überraschung.“

Die Waage zwinkert mir höhnisch zu.

Und während ich noch überlege, wie sie das ohne Augen eigentlich zustande bringt, verblasst der Geist.

Mit einem wilden Schrei schrecke ich aus dem Schlaf auf.

Das Zimmer ist dunkel. Ich knipse das Licht an und blicke hektisch umher. Der Geist der Waage ist nirgendwo zu sehen. Ich atme erleichtert auf. Es war alles nur ein böser Traum.

Dann höre ich meinen Magen knurren. Nun, wenn ich schon einmal wach bin, dann kann ich genauso gut einen kleinen Imbiss zu mir nehmen. Ich will die Beine aus dem Bett schwingen, da fällt mein Blick auf die Uhr. Genau in diesem Augenblick springt der Zeiger auf Mitternacht. Ich erstarre mitten in der Bewegung. Eine Minute vergeht, zwei Minuten vergehen … dann sind es fünf Minuten. Ich hole tief Luft. Nichts ist geschehen. Kein Geist ist gekommen und es wird auch keiner kommen. Schließlich bin ich nicht Ebenezer Scrooge aus Dickens Weihnachtsgeschichte.

Da spüre ich plötzlich eine Hand auf der Schulter.

Und eine tiefe herrische Stimme sagt: „Ich bin der, der dir angekündigt wurde. Dein Trainer. Dein Zuchtmeister. Der erste Geist.“

 

Ich beginne am ganzen Leib zu zittern und das Hungergefühl in meinem Bauch nimmt sprunghaft zu. Immer wenn ich mich gestresst fühle, bekomme ich Hunger – und in diesem Augenblick fühle ich mich sehr gestresst.

Halluziniere ich vielleicht schon vor Hunger?

Langsam drehe ich mich um. Vor mir steht ein kleiner Mann. Er trägt ein einfaches, aus Fellen gefertigtes Gewand. Seine langen Haare sind zu einem Zopf geflochten, sein Vollbart ist dünn und hat schon weiße Strähnen. Das Gesicht des Mannes ist sonnengebräunt. Sein Schädel ist seltsam länglich geformt. Er ist eindeutig ein orientalischer Typ und er hat eine enorm starke Ausstrahlung, die mich sofort in ihren Bann zieht und auch ängstigt. Ich begreife rasch, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Mensch ist. Er ist gewohnt zu befehlen, zu herrschen. Das lese ich in seinen dunklen Augen. Sie mustern mich kalt und unerbittlich. Ich schüttle mich, um mich aus ihrem Bann zu lösen.

„Wer bist du?“, frage ich leise.

Er richtet sich hoch auf und sagt mit tiefer, fester Stimme.

„Ich bin Attila, der Hunnenkönig!“

Ich starre ihn an. Verwirrt, verblüfft.

Dann schüttle ich den Kopf.

„Das ist ein dummer Scherz. Du bist natürlich nicht Attila“, sage ich.

Sein Blick wird noch eisiger und ich beginne unwillkürlich zu frösteln.

„Ich bin Attila und ich scherze nie“, sagt er. Er spricht eine fremde Sprache – vermutlich hunnisch – aber ich verstehe ihn ohne Probleme.

Ich schüttle nochmals den Kopf.

„Attila ist seit mehr als eineinhalbtausend Jahren tot. Du kannst gar nicht der Hunnenkönig sein. Er kann nicht hier sein“, halte ich dem Geist entgegen.

Er lächelt geringschätzig.

„Ich kann schon. Aber ich sollte nicht und ich will eigentlich auch gar nicht. Dies alles habe ich nur deinem unsinnigen Schwur, abzunehmen, zu verdanken. Im Übrigen scheinst du nicht ganz richtig im Kopf zu sein, denn du findest nichts dabei, dass dir der Geist deiner Waage erscheint. Aber dass dich der Geist des größten aller Hunnenkönige heimsuchen könnte, erscheint dir unmöglich! Du bist ein Narr.“

Er mustert mich von oben bis unten: „Ein sehr fetter Narr!“

Ich schlucke mehrmals. „Aber ich …“, hebe ich schließlich zu einem halbherzigen Protest an.

Doch Attila unterbricht mich sofort. „Ich bin nicht gekommen um mit dir zu streiten, sondern um einen Mann aus dir zu machen.“ Wieder wirft er einen kritischen Blick auf meine Figur: „Jetzt bist du nur ein Fass. Hätte sich damals einer meiner Krieger so gehen lassen, hätte ich ihm eine Radikalkur verpasst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schnell man abnimmt, wenn man vier Tage lang bis zum Kopf eingegraben ist und nur Wasser bekommt. Hilft auch das nichts, dann ist Vierteilen ein sehr wirksames Mittel gegen Übergewicht.“

Attila mustert mich abschätzend und nickt dann. „Ja. Das wäre die schnellste Lösung. Und jeder deiner vier Teile hätte dann sein Idealgewicht.“

Ich starre ihn schockiert an. Dann lache ich unsicher. „Das meinst du nicht ernst?“, sage ich. Aber ich bin mir da gar nicht so sicher.

„Ich habe dir schon gesagt, dass ich niemals scherze“, antwortet der Hunne düster und starrt mich an wie eine Schlange ihr Opfer. Dann grinst er plötzlich. Und ich fühle, dass ich in den letzten Augenblicken allein schon aus Angst einige Kilo abgenommen habe. Wenn das so weitergeht, werde ich in kürzester Zeit gertenschlank sein – und nervlich völlig am Ende.

„Ich glaube es wird Zeit für die erste Lektion“, sagt Attila.

Wir stehen plötzlich in der Steppe.

„Jetzt wirst du laufen!“, verkündet der Hunne.

Er sitzt auf einem gedrungenen Pferd und schaut zu mir herab.

„Ich werde nicht laufen!“, erkläre ich kategorisch.

Attila grinst. „Doch, doch! Du wirst laufen – und wie du laufen wirst ...“

Plötzlich höre ich ein seltsames Geräusch. Es klingt wie ferner Donner. Doch es wird immer lauter. Dann sehe ich eine Horde wilder Büffel oder was auch immer – auf jeden Fall Tiere mit riesigen Hörnern – auf mich zukommen. Jetzt fängt auch noch der Boden zu beben an.

Ich bleibe trotzig stehen.

„Das ist alles nur eine Illusion – und ich werde nicht laufen“, sage ich.

Attilas Grinsen wird noch eine Spur breiter.

„Bitte! Wenn sie dich tottrampeln, dann bin ich auch erlöst. Denn dann erlischt der Schwur, denn du geleistet hast – und die Waage und auch ich sind frei.“

Ich blicke in sein feixendes Hunnengesicht und dann wieder zu den heranrasenden Büffeln.

„Ich werde nicht laufen!“, schreie ich nochmals.

Dann drehe ich mich um und stürze in wilder Flucht davon.

Attila reitet neben mir her – er hält plötzlich eine Tafel Schokolade in den Händen und bricht ein großes Stück davon ab. „Ist sehr gut, diese Schokolade. Schade, dass es sie zu meiner Zeit noch nicht gab. Um in ihren Besitz zu gelangen, hätte ich Länder unterworfen und Reiche ausgelöscht.“

Er steckt sich die Schokolade in den Mund.

Ich würde ja gerne etwas antworten. Doch ich kann nicht. Ich bekomme kaum noch Luft und habe fürchterliches Seitenstechen. Aber ich laufe und laufe.

Attila ist plötzlich verschwunden, aber die Büffel sind nur wenige Schritte hinter mir. Nach fünf Minuten bin ich mit meinen Kräften am Ende. Auch wenn mich die Büffel zerstampfen – ich kann nicht mehr. Ich bleibe stehen und gehe keuchend in die Knie.

Die Büffel donnern auf mich zu … und lösen sich auf.

Dort wo sie gerade noch waren, steht ein kleines Pferd. Darauf sitzt der Hunnenkönig und grinst schon wieder von einem Ohr zum anderen.

„Also doch nur eine Illusion“, knurre ich Attila wütend an.

Er nickt fröhlich.

„Nur eine Illusion – aber eine sehr wirksame, wie ich meine“, sagt er.

Ich knirsche mit den Zähnen. Wäre ich nicht so erschöpft, würde ich mich auf ihn stürzen.

„Das nächste Mal falle ich nicht darauf herein“, knurre ich.

Er lächelt vergnügt.

„Das nächste Mal werden die Büffel echt sein“, sagt er.

 

Attila gönnt mir zehn Minuten Pause, dann schnippt er mit den Fingern. „Auf zur nächsten Runde!“

Ich hebe abwehrend die Hände. „Nein, heute nicht mehr. Wie wäre es, wenn wir morgen weitermachen würden?“

Statt einer Antwort schnalzt Attila mit der Zunge.

Und schon donnert eine neue Büffelherde auf mich zu.

Und sie sieht verdammt echt aus …

Drei Büffelherden später bin ich endgültig am Ende meiner Kräfte.

Ich falle zu Boden. Sollen sie mich aufspießen oder zertrampeln – es ist mir in diesem Augenblick gleichgültig. Ich kann einfach nicht mehr weiterlaufen. Ich sehe einen gesenkten Kopf mit zwei riesigen Hörnern auf mich zukommen und schließe die Augen.

Nichts geschieht.

Als ich ein Auge vorsichtig wieder öffne, sind die Büffel verschwunden. Vor mir steht stattdessen Attila und schaut verächtlich auf mich herab.

„Schwächling“, sagt er und spuckt vor mir auf den Boden. Eigentlich bin ich viel zu erschöpft, um mich zu ärgern. Aber dann wurmt mich seine Verachtung doch zu sehr.

„He, ich bin kein Hunnenkrieger. Und ich wette, jeder von ihnen wäre nach dieser Tortur auch völlig fertig gewesen“, protestiere ich.

Sein Gesichtsausdruck wird noch um eine Nuance verächtlicher.

„Das war nur eine leichte Aufwärmübung meines Volkes – für unsere Fünfjährigen“, sagt er. Das glaube ich ihm nicht. Aber ein Blick in seine dunklen Augen genügt und ich weiß, dass er die Wahrheit sagt.

Ich seufze resigniert.

Mein Magen knurrt empört.

Wie lange habe ich nichts mehr gegessen?

Viel zu lange!

„Ich habe Hunger“, sage ich trotzig.

Eigentlich habe ich erwartet, dass Attila mich erneut demütigen wird. Doch er lächelt und schwingt sich von seinem Pferd.

„Dann essen wir jetzt“, sagt er.

Er lässt sich mit gekreuzten Beinen auf dem Boden nieder. Ich will es ihm gleich tun. Doch mein Bauch ist mir im Weg. Ich kämpfe einige Sekunden lang um mein Gleichgewicht und falle dann um wie ein Sack. Ich liege auf dem Rücken und weiß, allein werde ich nicht mehr hochkommen. Ich starre in den Himmel. Wenn es wirklich einen Gott gibt, dann muss er doch Erbarmen mit mir haben.

Plötzlich schiebt sich Attilas Gesicht vor meine Augen. Er schaut interessiert auf mich herab. Er mustert irgendetwas auf meinem Kopf.

„Da sitzt ein Skorpion in deinen Haaren“, sagt der Hunne ruhig.

Mit einem Schreckensschrei fahre ich hoch und springe auf die Beine.

Mit den Händen durchwühle ich meine Haare, versuche hektisch den Skorpion hinunterzuschleudern. „Tu ihn weg, tu ihn weg“, schreie ich dem Hunnen zu. Dann sehe ich sein feixendes Gesicht.

Ich bin ihm schon wieder auf den Leim gegangen.

„Da ist gar kein Skorpion“, sage ich.

Er zuckt gleichgültig mit den Schultern.

„Du hast eine Aufstehhilfe gebraucht“, erklärt er lächelnd.

Ich möchte ihn erwürgen – aber ich fühle mich viel zu schwach dazu.

Mühsam setze ich mich hin.

„Was essen wir?“, frage ich.

Attila wirft mir einen amüsierten Blick zu.

„Wir essen, was alle Hunnen auf Reisen essen“, sagt er, geht zu seinem Pferd und holt unter dem Sattel etwas hervor, das wie altes Leder aussieht. „Hammelfleisch, gut durchgeritten und mit meiner ganz persönlichen Würze verfeinert“, sagt er lachend. Dabei entfährt ihm ein Wind, der das Pferd scheuen lässt.

Attila wirft mir ein Stück Fleisch zu. Ich fange es in einem Reflex auf und starre es an. Gut gewürzt hat er gesagt. Plötzlich ist mir übel. Ich kämpfe gegen akuten Brechreiz an. Attila schüttelt missbilligend den Kopf. „Ich weiß nicht, was du hast. Das ist doch ein echter Leckerbissen!“, sagt er und beißt in sein Fleischstück.

Das gibt mir den Rest.

Ich drehe ihm rasch den Rücken zu und kotze ins Gras.

Attila lacht.

„Es ist gut, wenn du nichts isst. Dann nimmst du schneller ab. Ich weiß genau, wie du dich jetzt fühlst. So wie ich, wenn ich mit meinen Stammesfürsten gefeiert und zu viel Guumy getrunken habe.“

Ich drehe mich ihm wieder zu und starre ihn verständnislos an.

„Du weißt nicht, was Guumy ist“, stellt Attila fest. „Was ist das nur für eine barbarische Zeit, in der ihr lebt? Keine Kultur!“, sagt er kopfschüttelnd.

Dann bekommt sein Gesicht einen genießerischen Ausdruck. „Guumy“, erklärt er feierlich, „ist vergorene Stutenmilch – sehr gut und sehr stark!“

Der Hunne schluckt sein letztes Stück Fleisch hinunter und steht auf. „Ich werde dir ein Gegenmittel gegen deine Übelkeit bereiten. Danach wirst du dich besser fühlen.“

Er schnalzt mit der Zunge. Und plötzlich steht da ein zweites Pferd vor ihm – offenbar eine Stute. Attila hält jetzt eine Schale in der Hand und beginnt das Pferd zu melken. Als das Gefäß halb voll ist, zieht er sein Messer aus dem Gürtel und sticht es der Stute fast zärtlich in den Hals – nicht tief – doch ihr Blut strömt. Attila lässt das Blut zu der Milch in die Schale fließen. Dann schleckte er mit der Zunge über den Hals der Stute. Wie durch einen geheimen Zauber hört die Blutung sofort auf und die Wunde schließt sich.

Attila hält mir die Schale hin.

„Trink!“, sagt er.

Einen Augenblick lang starre ich auf die Milch, die durch das Blut ein schmutziges Rot angenommen hat. Dann wende ich mich hastig ab und übergebe mich erneut.

Attila wirft den Kopf zurück und lacht brüllend. Es scheint, als könne er sich überhaupt nicht mehr beruhigen. Aber schließlich verstummt er mit einem letzten, heiseren Laut. Und plötzlich wird er sehr ernst. „Es ist gut, dass ich dich getroffen habe“, sagt er. „Zum ersten Mal bin ich froh darüber, tot zu sein. Wenn alle anderen Menschen nur halb so verweichlicht sind wie du, dann ist das keine Welt mehr für mich.“

„Ich bin nicht verweichlicht“, protestiere ich. „Ich bin zivilisiert und ich bin feinfühlig. Aber du bist ein roher Barbar.“

Attila hebt die Milchschale.

„Darauf trinke ich“, sagt er und leert sie mit einem Zug.

Dann grinst er. „Und jetzt trainieren wir weiter!“

„Nein“, schreie ich. „Ich kann keine Büffel mehr sehen!“

Der Hunnenkönig lächelt verschmitzt.

„Wer redet denn von Büffeln?“, fragt er und schnalzt mit der Zunge.

 

Ich weiß nicht, wie viele Stunden oder Tage vergangen sind. Ich bin von Büffeln gehetzt worden, von riesigen Bären, einem Puma und zuletzt sogar von einer geflügelten Schlange. Vielleicht habe ich mir das in meiner Erschöpfung aber auch nur eingebildet.

Vor ein paar Minuten bin ich endgültig zusammengebrochen. Und diesmal werde ich nicht wieder aufstehen, egal, was der Hunne noch auf mich hetzt. Ich liege auf dem Rücken und ringe nach Atem.

Attila steigt von seinem Pferd und geht neben mir in die Knie.

„Bist du müde?“, fragt er und es klingt fast mitleidig.

Ich bin zu schwach, um zu nicken.

„Noch ein Lauf und ich bin tot“, flüstere ich.

Attila grinst. „Keine leeren Versprechungen“, sagt er. „Aber ich kann dich beruhigen. Es gibt keine weitere Trainingseinheit mehr. Meine Zeit mit dir ist um.“

Ich kann nicht verhindern, dass ein erleichtertes Lächeln über mein Gesicht huscht.

Attila hebt drohend den Finger. „Freue dich nicht zu früh. Künftig wirst du jeden Tag eine Stunde laufen. Wenn nicht, kommen wir zurück – ich und meine Büffel!“

Attila grinst noch einmal breit und ist weg …

 

Im gleichen Moment ändert sich die Umgebung. Ich liege nicht mehr in der Steppe, sondern …!

Mit einem Schmerzensschrei springe ich in die Höhe. Viele kleine Spitzen haben sich in meinen Rücken gebohrt. Ich drehe mich um und starre verblüfft auf ein Nagelbrett, das auf dem Boden meines Schlafzimmers liegt. Natürlich bin ich bei meiner Rückkehr aus der Steppe genau darauf gelandet.

„Dieser verdammte hunnische Bastard“, fluche ich.

Da ertönt hinter mir eine amüsierte Stimme.

„Oh, du hast mein Nagelbrett gefunden. Das ist schön!“

Ich fahre herum und sehe einen kleinen, dünnen Mann. Er ist braun gebrannt und bis auf einen Lendenschurz und einen Turban auf dem Kopf völlig nackt. Er lächelt mich freundlich an. Der Mann erinnert mich ein wenig an Mahatma Ghandi.

Ich reibe mir mit der Hand über den schmerzenden Rücken.

„Du solltest dieses Ding nicht in den Schlafzimmern anderer Leute herumliegen lassen“, knurre ich, „sonst geschieht irgendwann noch ein Unglück.“

Er schaut zerknirscht drein und nickt zustimmend.

Dann beugt er sich zu mir vor, verschwörerisch, so als wolle er mir ein gut gehütetes Geheimnis verraten. „In Wahrheit benutze ich das Ding gar nicht. Aber ich habe es von einem befreundeten Fakir geschenkt bekommen und er wäre zu Tode beleidigt, sollte er davon erfahren. Darum nehme ich das Nagelbrett auch immer mit, wenn ich auf Reisen gehe – um den Schein zu wahren. Das kleine Missgeschick von vorhin tut mir wirklich leid. Tut es noch sehr weh?“, fragt er mitleidig. Doch seine Augen funkeln amüsiert. Seine Anteilnahme ist nur geheuchelt.

Widerwillig schüttle ich den Kopf. „Ich werde es überleben, und“ – ich denke an den Hunnen und seine Büffel – „ich habe viel Schlimmeres hinter mir. Deshalb wäre ich dir jetzt auch dankbar, wenn du aus meinem Schlafzimmer verschwinden könntest. Ich möchte mich ausruhen.“

Der Fremde nickt verständnisvoll.

„Ich weiß. Attila versteht es – nun sagen wir einmal – Leute zu motivieren …“, erklärt er.

Ich starre ihn an.

„Wieso? Ich meine, woher weißt du …?“

Der kleine Mann breitet verwundert die Arme aus.

„Ich dachte, das sei offensichtlich. Die Waage hat mich doch angekündigt. Ich bin der zweite Geist!“

Er lächelt sanft. „Und nun folge mir.“

Ich schließe einen Moment lang die Augen, dann schüttle ich entschieden den Kopf. „Ich bin zu alt und zu dick für diesen Scheiß“, murmle ich. „Und ich habe es satt! Mir ist jetzt alles egal. Ich lege mich hin. Keine zehn Pferde können mich von meinem Bett fernhalten“, erkläre ich entschlossen.

Im nächsten Moment ist mein Schlafzimmer verschwunden und ich werde in rasendem Tempo über heißen Sand geschleift – weg von meinem Bett, das plötzlich mitten in einer Wüste steht. Ich hänge mit den Füßen an einer Art Geschirr und am anderen Ende ziehen zehn Pferde. Der kleine Mann schwebt im Schneidersitz über mir und schaut interessiert auf mich herab.

„Die Pferde scheinen doch stärker zu sein als du“, erklärte er zynisch.

„Aufhören!“, rufe ich ihm zu. Er legt einen Finger an sein rechtes Ohr, als könne er mich nicht verstehen.

„Schon gut“, brülle ich und spucke dabei Sand. „Ich werde alles tun, was du sagst.“

Jetzt lächelt der Fremde wieder. Er schnippt kurz mit den Fingern und schon sind die Pferde verschwunden. Mühsam stehe ich auf und klopfe mir den Sand aus der Kleidung. In Zukunft werde ich mich hüten, in Anwesenheit von Geistern irgendwelche Sprichwörter zu verwenden.

Ich werfe dem kleinen Mann böse Blicke zu.

„Wie heißt du eigentlich?“, frage ich ihn dann.

Er schwebt nahe an mich heran und neigt leicht sein Haupt.

„Ich bin der Asket!“, sagt er feierlich.

Ich starre ihn an.

„Was ist das für ein komischer Name?“

Er schüttelt den Kopf.

„Das ist kein Name. Ein wahrer Asket übt sich in absoluter Enthaltsamkeit – er behält nicht einmal seinen Namen.“

„Und seinen gesunden Menschenverstand offenbar auch nicht“, knurre ich. „Aber egal. Was willst du von mir?“

Statt einer Antwort mustert er mich aufmerksam. Sein Blick wandert kritisch über meinen Körper, bleibt dann an meinem Bauch hängen.

„Mir scheint du bist schlanker geworden“, sagt er lächelnd.

In diesem Augenblick würde ich ihn am liebsten erwürgen.

„Aber du bist bei weitem noch nicht schlank genug“, fährt er fort. „Die Waage wartet auf ihre Erlösung. Und ich habe eigentlich auch andere Dinge zu tun als hier mit dir meine Zeit zu vergeuden. Gerade wir Asketen hassen nichts so sehr wie Verschwendung. Du musst rasch noch weiter abnehmen. Und das wirst du. Aber körperliche Betätigung allein genügt da nicht!“

Ich stöhne gequält auf.

Die Hitze macht mir zunehmend zu schaffen. Ich blicke mich um. Weit und breit nur Sand. Kein Baum, keine rettende Oase. Die Sonne sticht unerbittlich vom Himmel.

„Was tun wir hier?“ frage ich verzweifelt und wische mir den Schweiß von der Stirn.

Der Asket hat sich inzwischen neben mir im Sand niedergelassen.

Seine braunen Augen glitzern amüsiert.

„Schwitzen!“, sagt er.

 

Irgendwann verliere ich das Bewusstsein. Ich komme erst wieder zu mir, als mir jemand einen Eimer Wasser über den Kopf schüttet, und noch einen und noch einen …!

„Genug“, schreie ich, bekomme prompt Wasser in die Luftröhre, huste und kämpfe verzweifelt dagegen an, gleichzeitig zu ersticken und zu ertrinken. Dann werde ich mir meiner Umgebung bewusst. Ich liege in einem Bach unter einem kleinen Wasserfall, der unaufhörlich auf meinen Kopf plätschert. Mühsam wälze ich mich auf alle Viere und krieche darunter hervor. Der Asket sitzt am Ufer und lächelt freundlich. Ich schleppe mich aus dem Bach und lasse mich schnaufend neben ihm nieder.

„Ich wäre beinahe ersoffen“, sage ich vorwurfsvoll.

Er nickt.

„Und was lernst du daraus?“

Ich schaue ihn verständnislos an.

„Was soll ich daraus schon lernen? Dass alle Geister Sadisten sind!“, knurre ich.

Er schüttelt enttäuscht den Kopf.

„Du bist wirklich ein hoffnungsloser Fall. Liegt die Erkenntnis, die ich dir mit unserem Aufenthalt in der Wüste und deinem Bad im Bach zu vermitteln suchte, nicht auf der Hand? Zu viel Sonne trocknet Körper und Hirn aus, zu viel Wasser ertränkt dich. Oder viel allgemeiner gesagt: Jegliches Übermaß ist schädlich“, erklärt er.

Dann mustert er mich mit kritischem Blick.

„Um es auf dich umzulegen: Fressen macht fett!“

Der Asket hält plötzlich einen Fingerhut in der Hand und füllt ihn im Bach mit Wasser. „Mäßigung ist der wahre Sinn unseres Lebens“, erklärt er feierlich und trinkt den Fingerhut mit winzigen Schlucken leer.

„Ich glaube, du hast einen Sonnenstich“, sage ich.

Er ignoriert meinen Einwand und lächelt schon wieder vergnügt.

„Wir haben getrunken. Und jetzt essen wir.“

Mein Magen knurrt bei dieser Ankündigung frohlockend.

Diesmal gibt es sicher kein ledernes Hammelfleisch.

Erwartungsvoll schaue ich den Asketen an.

„Öffne deine Hand“, sagt er.

Ich tue wie geheißen. Er legt rasch eine Beere, ein winziges Stückchen Brot und ein vertrocknetes Salatblatt auf meine Handfläche.

„Die Vorspeise“, sagt er und weist auf die Beere.

„Die Hauptspeise“, erklärt er feierlich und deutet auf das Brot.

„Und natürlich die Nachspeise“, fügt er mit bezeichnendem Blick auf das Salatblatt hinzu.

Er schaut mich Beifall heischend an.

„Habe ich dir nicht ein Festmahl bereitet?“

Ich starre auf meine Hand, dann auf den Asketen und schließlich wieder auf meine Hand.

Dann beginne ich hemmungslos zu weinen.

 

Ich träume …

… von einem Tisch, der sich vor Speisen nur so biegt. Da stehen eine Schüssel mit Pommes frites, ein Tablett mit Schnitzel, eine Pfanne mit Schweinebraten, ein Teller mit Knödeln und ein Topf voll Sauerkraut. Und da sind auch noch Torten, leckere Bäckereien, eine große Kanne Kaffee und … und … und …

Ich gehe zum Tisch, ziehe einen Sessel hervor, lasse mich darauf sinken und ... falle haltlos zu Boden.

Über mir schwebt der Asket. Er hat mir den Sessel weggezogen und schüttelt drohend den Zeigefinger.

„Verschwinde aus meinen Träumen!“, brülle ich ihn an.

Das tut er auch. Doch zugleich mit ihm verschwindet das ganze schöne Essen. Nur der leere Tisch bleibt zurück. Ich starre eine Weile frustriert darauf, dann beschließe ich, aufzuwachen. Wozu soll ich jetzt auch noch weiterträumen …

 

Ich öffne die Augen.

Der Asket schwebt im Schneidersitz über mir.

Ich bin dem Hungertod sehr nahe. Zumindest fühle ich mich so.

„Was ist also das wichtigste Prinzip im Leben?“, fragt mich der Asket wohl zum hundertsten Mal. Ich weiß genau, was er hören will. Aber bisher bin ich standhaft geblieben und habe mich geweigert, es zu sagen. Das erstaunt mich selbst. Hätte ich früher beim Essen so einen eisernen Willen bewiesen, wäre ich nie so dick geworden, wie ich es nun bin.

Doch alles hat seine Grenze.

Auch meine Willenskraft.

„Essen“, flehe ich. „Essen“.

Der Asket bleibt unerbittlich.

„Was also ist das wichtigste Prinzip im Leben?“

Und diesmal habe ich nicht mehr die Kraft zum Widerstand.

„Mäßigung“, ich speie ihm das Wort förmlich entgegen. „Mäßigung, Mäßigung, Mäßigung“, brülle ich dann in heiligem Zorn.

Der Asket nickt.

„Und jetzt gib mir zu essen!“, fordere ich.

Der Asket schüttelt bedauernd den Kopf. „Du sprichst zwar wahr. Aber du hast diese Wahrheit noch nicht verinnerlicht. Würdest du sonst so aggressiv sein? Du musst lernen auch deine Gefühle zu mäßigen – vor allem deinen Zorn“, sagt er. Dann befiehlt er mir, die nächsten Stunden über seine Worte zu meditieren.

Und er lächelt dabei. Natürlich!

Als ich erwache, sitze ich an einem üppigen Büfett.

Und diesmal nicht nur im Traum. Ich bin wach und das Essen steht wirklich vor mir.

Mein Magen knurrt triumphierend.

Ich stoße einen Schrei aus wie ein wildes Tier, das sich auf seine Beute stürzt. Ich ignoriere das Essbesteck und greife mit beiden Händen nach einer großen Schweinshaxe. Doch ich führe die Bewegung nicht zu Ende. Meine Hände verharren wenige Zentimeter davon entfernt in der Luft – als seien sie gegen eine unsichtbare Barriere gestoßen.

„Mäßigung, Mäßigung, Mäßigung …“, flüstert eine Stimme in meinem Hirn.

Wie ich sie hasse!

Dennoch gelingt es mir nicht, sie einfach zu ignorieren.

Unwillkürlich schaue ich an mir hinunter und stutze. Ist in den letzten Tagen – sofern es überhaupt Tage waren, denn die Zeit scheint in der Gesellschaft von Geistern anderen Gesetzen zu unterliegen – mein Bauch nicht tatsächlich geschrumpft? Und zwar deutlich? Und was ist das für ein seltsames Gefühl, das da plötzlich in mir aufsteigt?

Freude? Stolz auf meine Gewichtsabnahme?

Ja, ich bin stolz! Und ich will diesen Erfolg nicht gleich wieder mit einer Fressorgie zunichtemachen.

Ich schüttle wütend den Kopf.

Der verfluchte Geist hat es also tatsächlich geschafft. Bedauernd starre ich auf das Büfett. Dann nehme ich mir ein Brötchen mit einer dünnen Scheibe magerem Schinken und eine große Schüssel Salat. Dazu trinke ich einen Becher Wasser.

„Mäßigung“, „Mäßigung“, brumme ich verbittert zwischen jedem Bissen.

Der Geist hat gewonnen.

Er sieht das wohl auch so.

„Bravo“, ruft er in einem für seine Verhältnisse geradezu euphorischen Ausbruch. „Du hast die Probe bestanden. Mein Werk ist vollbracht.“

Ich sage nichts dazu, kaue verbissen meinen Salat und brumme immer wieder „Mäßigung, Mäßigung, Mäßigung!“

„Ich werde dich jetzt verlassen, denn der dritte Geist wartet schon“, sagt der Asket.

Ich ignoriere ihn. Was hat er erwartet? Etwa, dass ich ihm aus Dankbarkeit um den Hals falle?

Er seufzt. „Undank ist der Welten Lohn“, philosophiert er. Es klingt beleidigter, als ein Asket es eigentlich sein dürfte. Dann beginnt der Geist zu verblassen, doch er droht mir noch einmal mit dem Zeigefinger.

„Vergiss nicht. Mäßigung! Sonst sehen wir uns in der Wüste wieder …!“

Und weg ist er.

Ich seufze tief.

Dann ändert sich die Umgebung …

 

… und ich bin wieder zurück in meinem Schlafzimmer und schaue mir selbst ins Gesicht!

Mit einem Schrei springe ich zurück. Denn ich blicke nicht etwa in einen Spiegel. Nein, ich stehe leibhaftig vor mir.

Aber bin das wirklich ich?

Das kann eigentlich nicht sein, denn der Mann vor mir ist schlank und durchtrainiert. Und doch trägt sein Gesicht meine Züge.

Ich starre ihn an.

„Du bist …“

„… du“, ergänzt er und grinst. „Oder vielmehr bin ich der, der du sein könntest oder auch der, der du sein wirst.“

Er dreht sich einmal um sich selbst. Er schaut gut aus, ist körperlich offensichtlich in Topform.

„Möchtest du nicht auch so aussehen?“

Ich weiß, dass das eine Fangfrage ist.

Aber ich kann in diesem Augenblick nicht lügen. Also nicke ich mechanisch.

Er grinst. „Dachte ich es mir doch. Ich bin fit, ich habe Spaß am Leben und die Frauen fliegen auf mich …“

„Frauen?“, frage ich und meine Kinnlade klappt nach unten.

Er – oder eigentlich ich selbst – grinse mich an.

„Frauen!“, bestätigt er genießerisch. „Sie halten mich für unwiderstehlich.“

Ich starre ihn an.

„Frauen!“, sage ich noch einmal und versuche mich zu erinnern, wann ich das letzte Rendezvous hatte. Es ist lange her und es endete in einem Desaster. Ich konnte nicht … ich meine … ich …!

Ich schüttle mich und versuche diese quälende Erinnerung zu verdrängen.

Mein anderes Ich streckt die Hand aus.

„Folge mir. Ich zeige dir, was sein könnte“, sagt es fröhlich.

Ich ergreife die Hand und schon verändert sich die Umgebung erneut ...

 

Wir stehen plötzlich vor einem Lokal. Ich erkenne es sofort. Es ist der exklusivste Tanz-Tempel, in dem die Reichen und Schönen unserer Stadt verkehren. Der absolute In-Schuppen. Ich bleibe stehen.

„Ich kann da nicht hineingehen“, sage ich.

Mein Doppelgänger grinst. „Du vielleicht nicht. Aber ich. Dich wird niemand sehen. Vergiss nicht! Was ich dir zeige, ist deine Zukunft.“

Er stößt die Tür auf und stürzt sich ins Getümmel. Unzählige Leute stehen da dicht gedrängt.

Mein anderes Ich schiebt sich durch die Menge. Überall wird es freudig begrüßt. So manche hübsche Frau wirft ihm schmachtende Blicke zu. „Ich muss ja ein toller Hengst sein“, murmle ich.

Ich ziehe meinen Doppelgänger am Arm.

„Wie verdienst du – ich meine, wie verdiene ich eigentlich mein Geld?“

„Ich bin Manager in einer großen Firma“, sagt er.

Ich bin verblüfft.

„Aber wie? Dafür bin ich doch gar nicht ausgebildet.“

„Nein, aber du hast Beziehungen. Oder besser gesagt, ich habe Beziehungen. Ich habe die Frau meines Bosses im Fitness-Studio kennen gelernt. Wir haben uns dann öfter gemeinsam körperlich ertüchtigt – wenn du weißt, was ich meine.“ Er grinst anzüglich. „Tja, sie war so zufrieden, dass sie mir einen Job verschafft hat – einen, der wenig Arbeit verursacht, aber viel Geld bringt.“

Er geht weiter und ich folge ihm sprachlos. Ich muss erst einmal verdauen, was er mir da erzählt hat. Bin das wirklich noch ich? Ein Schmarotzer? Plötzlich kommen mir Zweifel. Will ich überhaupt so werden wie er? Dafür müsste ich alle meine ethischen Grundsätze über Bord werfen.

Mitten auf der Tanzfläche wirft sich meinem Doppelgänger plötzlich eine dunkelhaarige Schönheit an den Hals. Er lächelt, küsst sie und zieht sie ganz dicht an sich heran. Ich starre die Frau mit offenem Mund an. Meine Zweifel sind wie weggewischt.

„Sie ist eine Göttin“, stammle ich.

Mit lasziven Bewegungen schmiegt sie sich an mein künftiges Ich.

Lüsterne Gedanken zucken durch mein Hirn.

„Ja ich will unbedingt so werden wie er!“, murmle ich.

Ich sehe zu, wie mein Doppelgänger und die schwarzhaarige Schöne tanzen – eng, fast obszön eng. Er flüstert ihr etwas ins Ohr. Sie lächelt sinnlich.

Dann drängen die beiden von der Tanzfläche.

Ich folge ihnen.

Mein zukünftiges Ich schaut zu mir zurück und grinst. Ich folge dem Paar durch eine Tür in einen Séparée-Bereich. Ein Bediensteter im Frack drückt meinem zukünftigen Ich einen Zimmerschlüssel in die Hand.

Mein Zwilling zieht die Frau hinter sich her und schließt eine Tür auf. Das Paar betritt das dahinter liegende Zimmer und die Tür schlägt vor meiner Nase zu. Wütend starre ich sie an, dann fällt mir ein, dass ich ja jetzt auch so etwas wie ein Geist bin. Und ich gehe einfach durch die Tür hindurch.

Vor meinen staunenden Augen reißt sich mein Doppelgänger hastig die Kleider vom Leib. Die dunkle Schönheit ist schon nackt. Ich starre auf ihren perfekten Körper. Dabei bleibt mir fast die Luft weg.

Dann muss ich grinsen: Wäre der Asket jetzt bei mir, wäre es mit seiner Mäßigung wohl auch schnell vorbei.

Die Frau stößt meinen Doppelgänger auf das Bett, wirft sich auf ihn, schleckt mit ihrer Zunge die Brust hinab und dann …

„Ja, ich will werden wie er. Ich werde abnehmen, ich werde trainieren. Ich werde … ich will er sein …!“, schreie ich.

Und plötzlich liege ich im Bett, spüre eine Zunge … und stöhne laut!

 

Da werde ich heftig geschüttelt. Meine Frau hat sich im Bett aufgesetzt und starrt mich misstrauisch an.

„Du hattest ganz offensichtlich einen Albtraum, darum habe ich dich geweckt“, sagt sie. Es klingt sehr schnippisch.

Ich brauche eine Weile, bis ich in die Wirklichkeit zurückfinde.

War wirklich alles nur ein Traum?

Die Waage? Der Hunne? Der Asket? Auch mein Übergewicht?

Ich hebe die Bettdecke und starre auf meinen Bauch.

Nein, der war leider kein Traum. Da ist er – schwabbelig und viel zu groß. Wie ich ihn in diesem Augenblick hasse. Ich lasse die Decke sinken und fasse einen Entschluss. „Ab sofort mache ich Diät“, erkläre ich meiner staunenden Frau. Dann lasse ich mich zurücksinken und schließe die Augen. Da schweben sie plötzlich alle vor mir und winken fröhlich – wie erlöst: der Geist der Waage, der Hunnenkönig, der Asket und sogar mein zukünftiges Ich.

Nur die schwarzhaarige nackte Schönheit ist nicht da.

„Schade“, murmle ich enttäuscht.

 

 

 

 

 

 

 

 

Wurzellos

 

Ich habe keinen Nabel.

Das hört sich im ersten Moment gar nicht so schrecklich an, denn wozu braucht man einen Nabel schon? Doch bestenfalls für einen Nabelbruch – und auf den verzichten wohl die meisten Menschen gerne.

Im Grunde ist so ein Nabel nach der Geburt ein völlig nutzloses Ding. Er dient weder der Ernährung noch der Ausscheidung, auch nicht der Aufrechterhaltung irgendeiner sonstigen körperlichen Funktion – ja, er ist nicht einmal eine besonders erogene Zone. Genau genommen ist der Nabel nach der Trennung vom Mutterleib nur noch ein schwer zu reinigender Schmutzfänger – und als solcher eigentlich höchst entbehrlich.

Und doch: Ich behaupte, der Nabel ist für uns Menschen genauso unverzichtbar wie das Herz oder die Lunge – auch wenn uns das nicht bewusst ist. Aber ist er nicht die ständige Erinnerung daran, dass wir von einem anderen Menschen abstammen, der uns in seinem Leib getragen und mit seinem eigenen Blut genährt hat? Ist er nicht letztlich der einzige untrügliche Beweis dafür, dass wir nicht alleine sind auf dieser Welt – und welcher Mensch könnte wohl auf Dauer ohne diesen tröstlichen Gedanken existieren?

Nun … ich werde es herausfinden müssen.

Denn ich habe keinen Nabel.

Ich weiß nicht mehr genau, wann ich mir dessen bewusst wurde. Vermutlich schon als kleiner Junge. Doch habe ich meiner Nabel-Losigkeit damals keine besondere Bedeutung beigemessen. Meine Großmutter, bei der ich nach dem Tod meiner Eltern aufwuchs, kommentierte meinen allzu glatten Bauch nie auch nur mit einem Wort. Und ich weiß nicht, ob ich ihr dafür dankbar sein oder sie dafür hassen soll. Denn ihr Schweigen zu meiner körperlichen Absonderlichkeit bescherte mir zwar einige unbeschwerte Kindheitsjahre – aber dafür auch einen umso größeren Schock, als meine Umwelt auf mein Anders-Sein aufmerksam wurde.

Es war an jenem Tag, als wir in der Hauptschule nach dem Turnunterricht zum ersten Mal duschen mussten. Ich erinnere mich, als sei es gestern gewesen – an dieses ungläubige Staunen in den Augen meiner Schulkameraden, als sie meinen makellosen Bauch sahen. Anfangs dachte ich ja sie würden anderswo hinschauen – ein Stückchen tiefer – und sie würden gleich in Hohngelächter ausbrechen, weil das, was an der betreffenden Stelle hing, allzu klein war. Aber bald wurde mir klar, dass sie auf meinen Bauch starrten – und ich sah in ihren Augen, wie das anfängliche Staunen das Entsetzen gebar. Hätte ich zwei Köpfe gehabt oder wäre mir ein dritter Arm aus der Brust gewachsen, die Abscheu in ihren Blicken hätte wohl kaum größer sein können.

Sie starrten mich an, als wäre ich ein Monster.

Und genauso behandelten sie mich von da an auch.

Für mich zerbrach in jenen Augenblicken eine ganze Welt. Ich war auf diese Ablehnung nicht vorbereitet – eben durch das Schweigen meiner Großmutter. Und der Turnlehrer war völlig überfordert und vermochte die Situation nicht zu retten. Zwar trieb er die anderen Burschen auseinander, doch waren seine Worte alles andere als überzeugend: „Es gibt hier nichts Besonderes zu sehen. Sicher, er hat keinen Nabel … doch das …“, rief er, aber seine Stimme zitterte dabei vor Entsetzen und schließlich brach er hilflos ab.

Von jenem Tag an war ich ein Außenseiter.

Meine Schulkollegen mieden mich fortan – und so saß ich meine gesamte restliche Schulzeit über allein an einem Tisch. Die Mädchen waren rasch von meiner Nabel-Losigkeit informiert worden und weigerten sich, auch nur in meine Nähe zu kommen. In den Pausen blieb ich an meinem Platz. Ich versuchte gar nicht mehr, Kontakt mit Mitschülern aufzunehmen. Ich konnte es nicht ertragen, wenn ich auf sie zuging und sie fast panisch vor mir zurückwichen.

Es gab aber auch ein paar Burschen, die keine Gelegenheit verstreichen ließen, mich wegen meiner Nabel-Losigkeit zu demütigen. „Vielleicht bist du ja künstlich geschaffen? Ohne Nabelschnur kann kein Baby auf die Welt kommen. Die Geschichte vom Unfall deiner Eltern, als du noch ganz klein warst, ist sicher frei erfunden. Schwachsinn. In Wirklichkeit bist du in einer Retorte gezüchtet worden. Wahrscheinlich bist du eine Art Roboter.“

Und um zu prüfen, ob ich tatsächlich nur aus Metall, Schrauben und Prozessoren bestand, drängten sie mich eines Tages in einer Pause in eine Ecke des Schulhofes. Drei Burschen hielten mich fest und der Vierte schnitt mir mit seinem Taschenmesser tief in den Finger, um zu sehen, ob ich blutete. Natürlich floss Blut. Und als ich vor Schmerz laut aufschrie, ließen sie mich los und rannten davon.

Überzeugt waren sie von meiner Menschlichkeit trotz des Blutes immer noch nicht. Und ich muss zugeben – auch ich selbst hatte so meine Bedenken. Es war ihnen tatsächlich gelungen, mit ihren Worten Zweifel in mein Herz zu säen.

War meine Herkunft eine einzige große Lüge? Waren meine Eltern gar nicht meine Eltern gewesen? War die Geschichte, dass sie in meinem ersten Lebensjahr in jenem See ertrunken waren – noch bevor ich zu bewusstem Denken erwachte – nur erfunden? War sie eine Mär, die mich davon abhalten sollte, nach meiner Abstammung zu forschen?

Fragen über Fragen. Und keine Antworten!

Wie sollte ich herausfinden, ob ich ein Mensch war oder nicht? Natürlich unternahm ich einige Versuche – doch sie brachten mich nicht weiter. Einmal aß und trank ich fünf Tage lang nichts. Ich sagte mir, dass ein Kunstgeschöpf, wenn ich denn ein solches war, keine Nahrung brauchte. Als ich mich schließlich kaum noch auf den Beinen halten konnte, kam ich zu dem Schluss, dass ich – Homunkulus oder nicht – zumindest essen und trinken musste.

Ein paar Tage später schluckte ich versuchsweise einen Fingerhut voll Schmieröl. Hätte es mir gemundet, dann wäre das doch ein schlagender Beweis meiner robotischen Natur gewesen. Doch ich übergab mich sofort und war zum ersten Mal in meinem Leben begeistert davon, dass ich kotzte.

Aber war das wirklich jener unwiderlegbare Beweis, auf den ich mein Leben aufbauen konnte?

Ich kotze, also bin ich Mensch?

Nein! Denn die Frage, warum ich keinen Nabel hatte, blieb ungeklärt. Ich begriff, dass nur die Antwort darauf meine Selbstzweifel würde auslöschen können.

Ich fand keine Ruhe mehr. Tag und Nacht sann ich darüber nach, was nach meiner Geburt passiert sein mochte. Hatte sich der Nabel entzündet und war deshalb entfernt worden?

Aber müsste es dann nicht zumindest eine Narbe geben?

Wie sehr wünschte ich mir, jemanden fragen zu können, der dabei war. Doch es ist niemand mehr da, der mir Auskunft über die damaligen Geschehnisse geben könnte. Meine Großmutter ist längst tot und andere Verwandte habe ich nicht.

Ist das nicht ein weiteres Indiz für meine künstliche Abstammung?

Ich habe keinen Nabel und keine Familie.

Komme ich tatsächlich aus einer Retorte?

War damals, als ich „geboren“ oder „geschaffen“ wurde, die Medizin überhaupt schon so weit entwickelt?

Bin ich vielleicht ein Prototyp?

Vor ein paar Jahren habe ich mir in einer Bibliothek die Zeitungsberichte vom Unfalltod meiner Eltern herausgesucht. Sie waren während eines Kurzurlaubs in einem See ertrunken. Mich hatten sie – obwohl noch nicht einmal einjährig – bei meiner Großmutter gelassen.

Aber fand dieser Unfall wirklich statt? Oder ist es nur eine konstruierte Geschichte, um meiner Existenz einen glaubhaften Hintergrund zu geben? Bin ich in Wirklichkeit nur ein Experiment, das heute noch von Wissenschaftlern beobachtet wird? Hat meine Großmutter Geld dafür bekommen, mich – das Kunstgeschöpf – aufzunehmen und großzuziehen? Wenn ja, dann hat sie ihren Reichtum vor mir exzellent zu verbergen vermocht. Denn Geld war in meiner Jugend immer knapp.

Auffällig ist, dass meine Großmutter in all den Jahren, in denen ich bei ihr gelebt habe, kein einziges Mal zu mir gesagt hat: „Ich habe dich lieb.“

Warum nicht?

Weil sie so ein gefühlsarmer Mensch war? Oder weil sie wusste, dass ich ein Kunstgeschöpf bin – und sie mich deshalb nicht lieben konnte?

Sicher, Großmutter umarmte mich zuweilen und lächelte mich manchmal auch zärtlich an. Aber ist das schon ein Beweis für Liebe?

Vielleicht war das alles nur geheuchelt – vielleicht war es eine Vertragsbedingung gewesen. Irgendwann begriff ich, dass ich früher oder später dem Wahnsinn verfallen würde, wenn ich dieser gedanklichen Spirale nicht Einhalt gebot.

Andererseits: Wahnsinnig werden konnte doch wohl nur ein Mensch. Sollte ich diese unsichtbare Schranke überschreiten, um aller Welt endgültig zu beweisen, dass ich menschlich war?

Ich entschied mich dagegen und entschloss mich stattdessen ganz neu anzufangen. Ich brach alle Brücken zu meiner Vergangenheit ab und wurde zum ruhelosen Wanderer. Ich zog von Stadt zu Stadt, von Land zu Land und versuchte meine Nabel-Losigkeit vor meiner Umwelt zu verbergen. Es gelang mir nie sehr lange. Irgendwann bemerkte doch jemand meinen glatten Bauch und die Kunde von meiner Andersartigkeit verbreitete sich in Windeseile. Sobald die Menschen entdeckten, dass ich keinen Nabel hatte, wurde ich zum Außenseiter.

Eines Tages prangte mein Bild sogar auf dem Titelblatt einer drittklassigen Illustrierten. Darüber stand in großen Lettern: „Der Mann ohne Nabel! Sind die Aliens schon unter uns?“

Ich wusste nicht, woher die Zeitung das Bild hatte. Es zeigte mich nackt im Badezimmer. Mein nabelloser Bauch war in Großaufnahme herausgezoomt. Wer immer mich da heimlich fotografiert hatte – zumindest hatte er noch so viel Anstand, meinen Namen nicht preiszugeben. Er kam im Bericht nicht vor. Überhaupt war der ganze Artikel, einmal abgesehen von meiner Nabel-Losigkeit, reine Erfindung. Angebliche Opfer berichteten, dass ich ein Außerirdischer sei, der mit seinem Raumschiff in ihrem Garten gelandet war und sie nun Nacht für Nacht zu abartigen Sexpraktiken zwang, um die menschlichen Paarungsrituale zu studieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein Außerirdischer – außer er war völlig beklopft – sich gerade diese beiden Exemplare der menschlichen Rasse für das Studium der Paarungsrituale ausgesucht hätte.

Für mich war der Zeitungsbericht aber ein deutliches Signal, dass ich wieder weiterziehen und untertauchen musste. Ich fürchtete auf der Straße Leuten zu begegnen, die den Artikel gelesen hatten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mich jemand erkennen würde – und auf Publicity dieser Art konnte ich gerne verzichten. Es bestand auch die Gefahr, dass ich früher oder später als medizinisches Versuchskaninchen in irgendeiner Anstalt landen würde.

Zum Glück führte mich damals meine Arbeit gerade in ein sehr abgelegenes Waldgebiet.

Ich bin nämlich Holzfäller.

Ich haue Bäume um!

Ehrlich gesagt, nicht in erster Linie um meinen Unterhalt zu verdienen, sondern aus purem Vergnügen oder vielleicht auch aus Zorn. Denn ich hasse Bäume. Ihre so unverfroren zur Schau gestellte Verwurzeltheit mit der Erde erinnert mich Tag für Tag an meine eigene Wurzellosigkeit. Und ich finde das unerträglich. Jeder Baum, der fällt, bereitet mir eine ungeheure seelische Genugtuung. Was helfen ihnen ihre Wurzeln schon, wenn ich mit der Axt oder mit der Säge komme?

Es gibt aber auch Zeiten in meinem Leben, in denen ich die Nähe von Bäumen überhaupt nicht mehr ertragen kann. Dann ziehe ich mich in mein kleines Haus in der Steppe zurück. Eine Zeit lang habe ich auch überlegt, mich auf einer kahlen Insel anzusiedeln. Doch der Anblick des Meeres, das ja die Urmutter und Wurzel allen Lebens ist, ist für mich fast noch unerträglicher als jener der Bäume.

Ich meide übrigens auch die Nähe von Babys. Ich kann es nicht aushalten, sie in den Armen ihrer Mütter zu sehen. Dieses Bild stürzt mich stets in tiefe Depression, weil es mir meine Einsamkeit überdeutlich vor Augen führt.

Ich habe mir auch schon vor langer Zeit geschworen, mich niemals fortzupflanzen. Obwohl ich mich dazu – Kunstwesen oder nicht – durchaus fähig fühle. Ich habe aber Angst, dass ich meine Nabel-Losigkeit – sollte sie nur eine üble Laune der Natur sein – an meine Kinder vererben könnte. Und ich möchte das, was ich durchmachen muss, keinem anderen Wesen zumuten.

Andererseits nagt natürlich der Zweifel an mir: Vielleicht würde mir eine eigene Familie ja den Halt geben, den ich so schmerzlich vermisse? Vielleicht wäre sie ein angemessener Ersatz für meinen fehlenden Nabel? Und was würde meine Herkunft dann noch für eine Rolle spielen?

Was macht einen Menschen denn überhaupt zum Menschen?

Doch sein Denken, sein Fühlen, sein Handeln – und nicht in erster Linie das Fleisch und das Blut.

Könnte so gesehen nicht sogar ein Roboter ein Mensch sein?

In der Theorie hört sich das gut an.

Doch in der Praxis?

Tatsache ist: Ich wünsche mir nach wie vor nichts sehnlicher als einen Nabel.

Ich habe sogar versucht, mir einen Nabel zu besorgen. Natürlich weiß ich, dass sich dadurch für mich selbst nicht wirklich etwas ändern würde. Ein künstlich geschaffener Nabel würde mir auch nicht mehr Identität geben – aber zumindest müsste ich mich vor der Außenwelt nicht mehr verstecken und könnte meine ruhelose Wanderschaft aufgeben.

Eines Tages ging ich also in eine Privatklinik für kosmetische Chirurgie. Die Operation kostete mich alle meine Ersparnisse – und noch ein wenig mehr. Aber der Leiter der Klinik machte es billiger, weil ich so ein interessanter Fall war. Er hatte bislang noch nie die Gelegenheit gehabt, einen Nabel zu schaffen. Er sah es als Krönung seiner bisherigen medizinischen Laufbahn an.

„Ein wenig werde ich mich nachher wohl wie Ihr Vater fühlen“, sagte er vor der Operation und klopfte mir wohlwollend auf die Schulter.

„Was für ein Unsinn“, dachte ich. „Als ob ein Baby durch die Nabelschnur mit dem Vater verbunden wäre!“

Doch ich schwieg.

 

Der Eingriff verlief planmäßig. Acht Stunden dauerte die Operation. Als ich aufwachte, war mein Bauch fest bandagiert. Nun begann das Warten. Ich hätte am liebsten sofort einen Blick auf meinen Nabel geworfen, doch der Arzt erklärte mir kategorisch, dass der Verband erst nach drei Tagen abgenommen werden dürfe. Es waren die längsten drei Tage meines Lebens. Doch schließlich war es so weit: Der Arzt öffnete den Verband und …

… wir starrten beide verblüfft und ungläubig auf meinen Bauch. Denn da war keine Wunde zu sehen, nichts, was überhaupt auf einen medizinischen Eingriff hingedeutet hätte.

Vor allem war da kein Nabel.

Mein Bauch war so glatt und makellos wie immer.

„Das … das ist nicht möglich“, stammelte der Arzt.

Meine Enttäuschung war so groß, dass ich ihn einen Betrüger schimpfte. „Sie haben das alles inszeniert. Es gab keine Operation. Sie wollten mir nur das Geld aus der Tasche ziehen. Sie sind ein Scharlatan!“, schrie ich ihn an. Doch seine Bestürzung war so echt, dass ich ihm schließlich Glauben schenkte. „Ich schwöre bei den künstlichen Brüsten meiner Frau – die ich übrigens selbst geformt habe – dass da nach der Operation ein Nabel war“, beteuerte er. Mehr noch als dieser Eid überzeugten mich die Fotos, die während und unmittelbar nach der Operation gemacht worden waren und die meinen Bauch mit Nabel zeigen. Diese Fotos nahm ich an mich. Sie sind bis heute mein größter Schatz – der Beweis, dass es zumindest ein paar Augenblicke in meinem Leben gab, in denen meine Welt beinahe heil war.

Der Arzt gab sich noch nicht geschlagen. Er wollte unbedingt einen zweiten Versuch machen, kostenlos sogar. Schließlich ging es hier um seine Berufsehre. „Und ich werde mich doch nicht einfach von einem störrischen Bauch ins Boxhorn jagen lassen. Sie bekommen einen Nabel – ob es dem Bauch nun passt oder nicht!“, erklärte er im Brustton der Überzeugung.

Es bedurfte noch zwei weiterer Operationen, die auf meinem Bauch keinerlei Spuren hinterließen, um ihn von der Sinnlosigkeit seines Tuns zu überzeugen. Vermutlich hätte er auch noch einen vierten Versuch gemacht, aber ich war der erfolglosen Eingriffe, der Verbände und der sinnlosen Warterei überdrüssig. Mit dem Skalpell war meinem Bauch ganz offensichtlich nicht beizukommen. Wenn ich einen Nabel haben wollte, das hatte ich nun begriffen, dann musste ich nach anderen Methoden suchen – unkonventionelleren. Die Schulmedizin war machtlos.

Also verließ ich die Klinik und vertraute mich einem Wunderheiler an, der mir schwor, mir einen Nabel herbeisingen zu können. Wir zogen uns dazu in ein verlassenes Kloster in den tibetanischen Bergen zurück.

Nach zwei Tagen ununterbrochenem Singsangs hatte er seine Stimme verloren, ich aber noch immer keinen Nabel. Dennoch war der Wunderheiler nicht völlig erfolglos – denn als er das magische Tuch, in das er mich gehüllt hatte, um die Wirkung seiner Stimme zu verstärken und auf die richtige Stelle auf meinem Bauch zu kanalisieren, von meinem Leib zog, da entdeckte ich mitten auf meiner Brust eine dritte Warze. Und ich hatte mich von diesem Schock noch nicht erholt, da wurde mir bewusst, dass sich der Hautsack zwischen meinen Beinen viel praller anfühlte als zuvor.

Staunend ertastete ich mit meinen Fingern einen dritten Hoden.

In meiner ersten, wohl verständlichen Wut wickelte ich den Wunderheiler in sein magisches Tuch und setzte ihn zwei Tage lang seinem eigenen Singsang aus – von einer CD in Endlosschleife reproduziert. Ich weiß nicht, wie er jetzt aussieht, denn ich machte mich davon, bevor er sich aus dem Tuch wickeln konnte.

Ich kehrte auf schnellstem Weg zum Schönheitschirurgen zurück, der mir die Brustwarze in einem relativ kurzen Eingriff entfernte und überglücklich war, dass endlich eine seiner Operationen an mir von Erfolg gekrönt war.

Den dritten Hoden habe ich heute noch. Er ist für mich eine stetige schmerzhafte Warnung, mich nie wieder auf irgendwelche obskuren Experimente einzulassen – und ein Grund auf keinen Fall zu enge Hosen zu tragen. Gegen meine Einsamkeit konnte der dritte Hoden allerdings nichts ausrichten.

Ich habe noch immer keine Freunde, keine Familie und keinen Nabel. Dafür wächst mein Neid auf die „normalen“ Menschen zusehends. Manchmal verspüre ich den Drang in mir, ihnen ihre Nabel einfach herauszureißen, sie genauso zu entwurzeln, wie ich selbst es bin.

Dieses Gefühl macht mir Angst. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch im Zaum halten kann. Werde ich eines Tages Amok laufen und mit einem großen Küchenmesser alle Nabel aus allen gerade erreichbaren Bäuchen schneiden? Werde ich als psychopathischer Gewalttäter in einer geschlossenen Anstalt landen? Vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Immerhin hätte ich dann – wenn schon keine Wurzeln – so doch zumindest eine klare, überschaubare Zukunft.

 

Seit einigen Wochen ist alles anders.

Ich habe Hoffnung.

Der Grund dafür ist ein Nabel. Nein, ich selbst besitze noch immer keinen, aber ich habe mich in einen Nabel verliebt. Der Zufall lenkte eines Abends meine Schritte in eine Bar in einem heruntergekommenen Viertel am Stadtrand. Ich war frustriert stundenlang einfach nur durch die Straßen gelaufen und dann wollte ich trinken bis mein Hirn in Alkohol schwamm. Das würde mir, so wusste ich aus Erfahrung, zumindest für ein paar Stunden Vergessen schenken. Aber ich hatte noch nicht einmal das erste Glas Whiskey in mich hineingeschüttet, da schwebte etwas über Augenhöhe plötzlich dieser Nabel vor mir. Ich hatte überhaupt nicht darauf geachtet, was für eine Bar ich da betreten hatte. Daher überraschte mich die nackte Bauchtänzerin auf dem Tresen vollkommen. Während die Männer neben mir mit glasigen Augen auf ihre höher oder tiefer gelegenen Reize starrten, konnte ich meinen Blick nicht von ihrem Nabel nehmen.

Er war perfekt.

Der schönste Nabel, den ich je gesehen hatte. Er wiegte sich bei den Tanzschritten der Frau in einem verlockenden Rhythmus, der mich schwindeln ließ. Ihren restlichen Körper und ihr Gesicht nahm ich nur verschwommen wahr. Für mich gab es nur noch diesen unglaublichen, wunderbaren Nabel.

Als er am Ende des Tanzes vom Tresen schwebte, folgte ich ihm wie ein Schlafwandler. Er zog mich magisch an. Ich ging ihm nach – durch die Tür mit der Aufschrift „Nur Personal“ bis zur Garderobe der Tänzerin und ohne zu zögern, trat ich in den kleinen Raum.

Erst dort erwachte ich aus meinem tranceartigen Zustand.

Die groß gewachsene, dunkelhaarige Frau hatte sich einen Bademantel übergezogen und der Nabel war dadurch aus meinem Blickfeld entschwunden. Ich fühlte mich, als hätte mich ein Hypnotiseur aus seinem Bann entlassen. Hilflos und verwirrt stand ich da und starrte die Tänzerin an.

Sie schien mehr amüsiert als verärgert über meine Dreistigkeit.

„Nun?“, fragte sie. „Wie kann ich Ihnen helfen?“

Sie hatte eine tiefe rauchige – durchaus erotische – Stimme.

Ich starrte sie hilflos an. Was sollte ich sagen?

Dann entschied ich mich einfach für die Wahrheit.

„Ich … ich … habe mich in Ihren Nabel verliebt“, erklärte ich.

Diesem Geständnis folgte ein langes Schweigen.

Die Frau musterte mich aufmerksam. Vermutlich versuchte sie zu entscheiden, ob ich sie auf den Arm nahm oder einfach nur ein armer Irrer war. Sie schien zu keinem klaren Ergebnis zu kommen.

„In meinen Nabel?“, fragte sie schließlich.

Ich nickte.

„Er ist wunderbar, einzigartig … eine strahlende Sonne, eine goldene Rose, ein wahrer Royce-Rolls unter den Nabeln …“, schwärmte ich.

Jetzt lächelte die Tänzerin.

„Sie machen mich ja fast verlegen“, wehrte sie ab.

Dann schüttelte sie verständnislos den Kopf. „Ich bin es zwar gewohnt, dass Männer meinen Körper begehren, allerdings waren das bisher immer ... andere Teile. Mein Nabel hat noch keinen meiner Kunden sonderlich interessiert. Ich sollte mich also wohl geschmeichelt fühlen.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und so standen wir uns eine Zeit lang einfach schweigend gegenüber.

„Und jetzt? Was tun wir jetzt?“, fragte die Tänzerin schließlich.

Ich zuckte hilflos mit den Achseln.

„Könnte ich ihn vielleicht noch einmal sehen?“, bat ich dann.

Sie zögerte, aber schließlich nickte sie und öffnete ihren Bademantel. Sie war noch immer völlig nackt darunter und zum ersten Mal nahm ich jetzt ihren ganzen Körper wahr – ihre festen, wohl geformten Brüste, das dunkle verheißungsvolle Dreieck zwischen ihren Beinen … aber dann schlug mich schon wieder ihr Nabel in seinen Bann. Ich konnte nicht anders, ich kniete mich hin und küsste ihn, wieder und wieder. Ich leckte ihn, ich schmeckte ihn – ich war wie im Rausch.

Erst die Stimme der Tänzerin holte mich in die Wirklichkeit zurück.

„Ich denke das genügt jetzt“, sagte sie. Ihr Gesicht hatte sich gerötet und ihr Atem ging schneller. „Wir sollten es wirklich nicht übertreiben.“

Sie trat einen Schritt zurück und schloss ihren Mantel. Mir war als ginge die Sonne unter und ich wurde zurückgestoßen in eine Welt aus Dunkelheit, Kälte und Verzweiflung. In diesem Augenblick begriff ich, dass ich dem Nabel der Tänzerin rettungslos verfallen war – auf immer und ewig.

Wie sollte ich ohne ihn nur weiterleben?

Ich spürte, dass mir Tränen über die Wangen liefen.

„Darf ich ihn wiedersehen?“, fragte ich flehend.

Die Frau sagte lange nichts.

Doch schließlich nickte sie. „Aber nur gegen Bezahlung.“

Wir einigten uns auf eine Stunde pro Woche. In dieser Zeit durfte ich dem Nabel nahe sein, ich durfte ihn betrachten, ihn streicheln und auch küssen. Ich zahlte dafür denselben Tarif, den sie von anderen Kunden für ... andere Dienste verlangte.

In der ersten Zeit war ich glücklich mit dieser Übereinkunft. Ich hatte etwas, auf das ich mich eine ganze Woche lange freuen konnte, etwas, das mir Halt gab, meinem ganzen Leben einen Sinn verlieh.

Meine eigene Nabel-Losigkeit erschien mir nun nicht mehr so schrecklich. Solange ich den Nabel der Tänzerin nur wiedersehen konnte, war alles gut. Aber meine Abhängigkeit von diesem wunderbaren Nabel wuchs und wuchs. Es war wie eine Sucht. Bald bekam ich ernsthafte Entzugs-Erscheinungen, wenn ich nicht in seiner Nähe war: Angstzustände, Schüttelfrost, Wahnvorstellungen.

Inzwischen weiß ich kaum mehr, wie ich die Zeit bis zum nächsten Besuch überstehen soll. Ich denke unablässig an den Nabel der Tänzerin. Er beherrscht mein ganzes Sehnen und Nacht für Nacht träume ich von ihm. Neuerdings redet er sogar mit mir. Nein, nicht in meiner Einbildung, sondern ganz konkret – in jener einen Stunde, in der ich bei ihm bin. Wir unterhalten uns lautlos, damit seine „Wirtin“ keinen Verdacht schöpft.

Ich bin inzwischen zu der festen Überzeugung gelangt, dass der Nabel eigentlich für mich bestimmt gewesen war und nur durch einen grausamen Irrtum in den Körper dieser Frau verschlagen worden ist. Der Nabel selbst glaubt das übrigens auch.

Für den Schöpfungsplan – wenn es denn einen gibt – ist dieser kleine Fehler natürlich völlig unbedeutend und für das Universum wohl nicht einmal ein Treppenwitz. Aber für mich ist er die Ursache für die ganze Tragödie meines Lebens.

 

Inzwischen hat sich die Lage noch zusätzlich verkompliziert. In meinem Verhältnis zu der Tänzerin ist eine Veränderung eingetreten. Etwas in der Art wie sie mich ansieht, ist anders geworden. Ich fürchte sie hat sich in mich verliebt – auch wenn ich nicht nachvollziehen kann, warum. Ich habe ihr keinerlei Avancen gemacht und in ihren Augen muss ich doch eigentlich ein armer Irrer sein. Wieso also sollte sie Gefühle für mich entwickeln?

Und doch hat sie mir vor einigen Tagen ein Geschenk gemacht, wie ich noch keines bekommen habe, ein Geschenk, das man wohl nur aus wahrer Liebe machen kann. Gerade jetzt trage ich es am Leib. Es ist ein Pullover, gestrickt aus lauter Nabelschnüren. Die Tänzerin hat eine gute Freundin, die in einem Krankenhaus auf der Geburtenstation arbeitet. Wochenlang hat diese nach jeder Geburt heimlich die Nabelschnüre beiseite geschafft. Wie es der Tänzerin gelungen ist, sie so geschmeidig zu machen, dass sie aus ihnen einen Pullover stricken konnte, werde ich wohl nie erfahren. Tatsache ist aber, dass sich die Nabelschnüre anfühlen wie weiche Wolle.

Ich bin ehrlich gerührt gewesen, als mir die Tänzerin den Pullover in die Hände drückte und zum ersten Mal habe ich ihr so richtig bewusst ins Gesicht gesehen. Sie hat ein schönes Antlitz. Und wäre ich nicht so sehr auf ihren Nabel fixiert, vielleicht hätte der Blick ihrer blauen Augen sogar mein Herz berührt.

So aber habe ich den Pullover mit einem verlegenen Dank angenommen. Ich habe es nicht fertig gebracht, ihn zurückzuweisen. Und inzwischen bin ich froh darüber. Denn der Pullover hilft mir tatsächlich die Zeit, in der ich vom Nabel getrennt bin, leichter zu überstehen. Er hat einen beruhigenden Einfluss auf mich.

Andererseits belastet er aber auch mein Gewissen.

Denn ich habe längst beschlossen, der Tänzerin ihren Nabel zu stehlen. Und das wäre leichter, wenn sie mich hassen würde – oder ich ihr zumindest gleichgültig wäre.

Wie auch immer. Ich will ihren Nabel haben. Ich brauche ihn und er steht mir zu. Davon bin ich fest überzeugt.

40 Jahre ohne Nabel sind genug. Das ist mehr, als ein Mensch ertragen müssen sollte. Seit Wochen beschwöre ich den Nabel bei unseren Treffen, seine bisherige „Wirtin“ doch zu verlassen. Und ich spüre, dass die Stunde, in der ich ihn endgültig überzeugt haben werde, nicht mehr fern ist.

Der Nabel wird zu mir kommen!

Ich weiß nicht wie und ich weiß nicht wann. Aber ich bin davon überzeugt! Eines gar nicht so fernen Morgens werde ich erwachen, auf meinen Bauch hinunter sehen – und der Nabel wird da sein.

Ich habe mir geschworen, an jenem Tag der Tänzerin den Pullover zurückzugeben. Sie wird ihn von da an nötiger brauchen als ich.

Denn ich werde dann endlich ein ganzer Mensch sein ...