Auszug aus dem Buch

Liebe in Zeiten der Prostata

Bis zum letzten Atemzug

 

Wenn der Aufstand

Erfolg haben soll

 

raunte

der Revolutionsführer

seinen Genossen zu

als die Häscher sie

zum Schafott

führten

 

dann dürfen wir auch

in solchen Situationen

nicht

den Kopf verlieren

 

Midas

 

Der Junge hob das Glas an die Lippen, um zu trinken.

Doch dann zögerte er, setzte es ab, hielt es sich vor die Augen und betrachtete aufmerksam die Flüssigkeit darin. Sie war farblos – wie Wasser oder Schnaps – und doch war sie keines von beiden.

Der Junge wusste nicht, was in dem Glas war – er wusste nur, was der Trank bewirken sollte.

„Was ist los? Warum trinkst du nicht?“, fragte eine freundliche Stimme, in der aber auch ein Hauch Ungeduld mitschwang. Sie drang durch einen Lautsprecher zu dem Jungen herein, der allein und nackt in einem sterilen, unmöblierten Raum stand. Durch eine Glaswand sah er hinaus zu etwa einem Dutzend Männer und Frauen in weißen Kitteln. Sie standen da und starrten zu ihm herein. Der Junge unterdrückte den Impuls, seine Blöße zu bedecken. Schutzlos ausgeliefert zu sein, das war schon immer sein Los gewesen, und um genau das zu ändern, war er schließlich hier.

Der Junge reagierte nicht auf die Frage des Mannes. Stattdessen hielt er sich nun das Glas unter die Nase und schnupperte an der Flüssigkeit. Sie war nicht nur farb-, sondern auch geruchlos.

Der Junge fragte sich, ob dieser Trank ihn tatsächlich so grundlegend verändern konnte, wie die Männer und Frauen dort draußen glaubten?

„Trink jetzt“, forderte die Männerstimme.

Der Junge hob das Glas wieder an die Lippen, doch dann zögerte er erneut. Er dachte an den langen Weg zurück, der ihn in diesen Raum geführt hatte.

 

Sein Geburtsdatum kannte der Junge nicht, und an seine ersten Lebensjahre hatte er kaum eine Erinnerung. Vielleicht hatte er sie auch einfach verdrängt – denn wer erinnerte sich schon gerne an die Hölle? Der Vater des Jungen war arbeitslos und Alkoholiker. Tag für Tag trieb er sich in Kneipen herum und jeden Abend, wenn er in die baufällige Hütte in den Slums der Stadt zurückkam, in der die Familie hauste, schlug er die Mutter und auch den Jungen. Dabei verdiente die Mutter das Geld, das der Vater versoff. Nacht für Nacht verkaufte sie ihren Körper und jeden Morgen nahm ihr Mann ihr das Geld weg. Sie verbarg jedoch kleine Beträge vor ihm – gerade so viel, dass sie ein wenig Essen für sich und den Jungen kaufen konnte. Mehr abzuzweigen wagte sie nicht, denn wenn dem Vater ihr Verdienst zu niedrig erschien, schlug er sie noch brutaler. Bei Tag kniete sich die Mutter oft auf den Boden der Hütte, krümmte den Rücken so weit durch, dass er fast wie ein Schneckenhaus aussah und verbarg den Kopf in den Händen. Stundenlang verharrte sie so und murmelte vor sich hin: „Ich bin eine Schnecke. Ich verstecke mich in meinem Haus. Niemand kann mir etwas anhaben. Niemand kann mir wehtun. Ich bin eine Schnecke …“.

Am Abend trieb sie der Vater oft mit Schlägen hinaus auf den Strich.

Eines Morgens kam die Mutter nicht heim. Also ging der Junge – er war damals fünf Jahre alt – los, um sie zu suchen. Sie lag gar nicht weit von der Hütte entfernt in ihrem Blut. Offenbar hatte sie sich mit letzter Kraft nach Hause schleppen wollen. Der Junge verstand damals nicht, was passiert war. Einige Jahre später wurde ihm klar, dass ein Freier nicht mit seinem Glied in seine Mutter eingedrungen war, sondern mit einem Messer. Der Junge setzte sich in die Blutlache und hielt die Hand seiner toten Mutter. Nach einer Weile sah er eine Schnecke unter ihrem Körper hervor- und rasch davonkriechen. Da wusste der Junge, dass sich der Wunsch seiner Mutter erfüllt hatte. Sie war nun tatsächlich eine Schnecke. Der Junge freute sich für sie. Als die Polizei kam, fand sie ihn fröhlich lachend im Blut seiner Mutter sitzend. Die Beamten taten sein Verhalten als Schockzustand ab. Sie hatten nicht die Absicht, den Fall zu verfolgen. Eine Hure weniger in der Stadt – wen kümmerte das? Sie brachten den Jungen heim zu seinem Vater, der zu dessen Überraschung sogar da war. Bei der Nachricht vom Tod seiner Frau sackte er in sich zusammen und begann lautlos zu weinen. Das erschreckte den Jungen weitaus mehr, als wenn sein Vater gebrüllt und getobt hätte. Doch zugleich wusste er, dass sein Vater nicht um seine Mutter trauerte, sondern um seine einzige Einnahmequelle. Später an diesem Tag prügelte der Vater den Jungen, ließ seine ganze Wut und Verzweiflung an ihm aus. Schließlich versetzte er dem am Boden liegenden, wimmernden Kind einen letzten Tritt. „Du bist völlig unnütz! Wenn du wenigstens Gold scheißen könntest!“, rief er vorwurfsvoll.

 

 

Frischer Wind

 

Ich verkaufe frischen Wind!

In Dosen!

Ich mache ihn selbst – genau auf die Wünsche meiner Kunden abgestimmt. Daher ist auch jeder meiner frischen Winde eine Sonderanfertigung – und natürlich ein absolutes Hightech-Produkt. Es bedarf eines hoch komplizierten wissenschaftlichen Verfahrens um frischen Wind herzustellen, das einfach gestrickten Gemütern vermutlich wie Zauberei erscheinen würde. Ganz im Vertrauen: Ein wenig Magie ist auch dabei.

Der Rohstoff, aus dem ich meinen frischen Wind erschaffe, ist heiße Luft. Die gibt es zwar zuhauf, aber ich brauche sie in ihrer reinsten Form und diese findet man – wie sich unschwer erahnen lässt – im Parlament. Deshalb, und nicht etwa aus politischem Interesse, nehme ich alle paar Wochen als Zuhörer an einer Nationalratssitzung teil. Ich tue es, um meine Vorräte an heißer Luft zu ergänzen. Nach vier bis fünf Stunden politischer Diskussion ist die Konzentration von heißer Luft im Plenarsaal so massiv, dass normale Menschen sich ihr ohne Risiko für Leib und Leben nur noch sehr, sehr kurze Zeit aussetzen können.

Politiker hingegen … aber das ist eine andere Geschichte.

Ich warte jedes Mal geduldig den richtigen Augenblick ab, fülle dann unauffällig die heiße Luft in meine mitgebrachten Vakuumbeutel und verschließe diese sorgfältig, um beim Heimtransport jede Verunreinigung meiner Beute zu vermeiden, denn diese würde sich fatal auf die Produktion meiner frischen Winde auswirken.  

Die Wachmänner am Parlamentseingang werfen mir jedes Mal misstrauische Blicke zu, wenn ich mit den Beuteln in den Händen das Gebäude verlasse. Doch keiner hält mich auf. Sie alle wissen um das grausame Schicksal jenes Kollegen, der eines Tages beschloss, mich zu durchsuchen.

„Was ist in diesen Säckchen?“, fragte er streng.

„Luft!“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Er glaubte offenbar, dass ich ihn auf den Arm nehmen wolle. Mit strenger Miene deutete er auf einen der Beutel.

„Aufmachen!“, befahl er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Das geht leider nicht!“

„Das werden wir ja sehen!“, rief er und entriss mir eines der Säckchen. Mit beiden Händen machte er sich am Verschluss zu schaffen.

„Nein, tun Sie das nicht! Sie werden …!“, rief ich.

Es war zu spät. Die heiße Politluft fuhr dem Wachmann mitten ins ungeschützte Gesicht.

Die Wirkung war erstaunlich und äußerst drastisch!

Erst lachte der Mann hysterisch, dann kicherte er irre, dann weinte er bitterlich und schließlich kippte er um wie ein nasser Sack. Es dauerte Wochen, bis der Unglückliche wieder ansprechbar und Monate, bis er wieder diensttauglich war. Aber noch jetzt erleidet er Panikattacken, wenn er mich und meine Säckchen nur von Weitem sieht.

Der Wachmann tut mir leid, aber ich hatte ja versucht ihn zu warnen. Ich selbst habe natürlich im Laufe der Jahre eine gewisse Immunität gegen die heiße Politluft entwickelt. Ich war früher Journalist, und auch da ist man ihr ja sehr oft ausgesetzt und entwickelt gewisse Abwehrkräfte. Dennoch bin ich mir sicher – ein derart konzentrierter Schwall hätte auch mich aus den Schuhen kippen lassen.

Nach meinen Parlamentsbesuchen eile ich stets schnurstracks nach Hause. Auf meinem Dachboden hänge ich die Beutel mit der heißen Luft sorgfältig an eine Wäscheleine. Dort bleiben sie dann einige Wochen. Die Praxis hat mir gezeigt, dass man nur aus gut abgehangener heißer Luft wirklich frischen Wind gewinnen kann. Die fachgerechte Lagerung ist so wichtig, weil nur dadurch die Luft ihre schier unglaubliche Aufnahmefähigkeit für Essenzen aller Art gewinnt – die die Voraussetzung für jegliche Frische-Wind-Produktion ist. Denn, wie schon gesagt – die heiße Luft ist nur der Rohstoff. Frischer Wind wird sie erst durch die Beimengung der richtigen Zusätze. Diese sind es auch, die meine Produkte so teuer machen.