Auszug aus dem Buch

 Odysseus im Supermarkt

Vom rühmlichen Ende des Fabrikarbeiters R

 

Der Arm wirbelte durch die Luft.

Endlich losgelöst vom Körper und befreit von der Diktatur des Gehirns, dessen Befehlen er sich Zeit seiner Existenz hatte beugen müssen, vollführte er nun einen ekstatischen Freudentanz.

Offenbar begriff der Arm in diesen ersten Augenblicken nach der Trennung vom Leib noch nicht, dass damit sein Ende gekommen war - oder er nahm den Tod auch willig in Kauf, als angemessenen Preis für diese paar Momente der Freiheit.

Die Hand hingegen war über ihr nahes Hinscheiden alles andere als erfreut. Ihr tat es um die vielen Dinge leid, die zu begreifen sie in ihrem Dasein noch keine Gelegenheit gehabt hatte - und nun auch nicht mehr haben würde.

Doch ihr Schicksal war untrennbar mit jenem des Armes verbunden - und somit besiegelt. Es blieb ihr nur noch, einen sauberen Schlussstrich zu ziehen. Also wartete die Hand, bis der Arm sich in seinem wirren Taumel einmal so herumdrehte, dass die Finger in Richtung des Körpers wiesen und winkte verstohlen ein-, zweimal zum Abschied.

Dann klatschen Arm und Hand auf den Fabrikboden.

 

R. beobachtete dieses dramatische Schauspiel, als ginge es ihn nichts an.

Noch immer stand er an der Schneidemaschine, die Linke gegen das kalte Metall gestützt - bereit, mit der Rechten das nächste Werkstück vom Stapel zu nehmen und unter das breite Gouillotine artige Messer zu legen.

Doch die Rechte gab es nicht mehr - auch wenn R. das noch nicht wirklich begriffen hatte, auch wenn er sie noch immer zu spüren glaubte und meinte, jeden einzelnen Finger der Hand bewegen zu können. Sein Arm war nur mehr ein regungsloses Stück Fleisch auf dem Fabrikboden.

Ein grelles Jaulen ließ R. zusammenzucken.

Zu lange hatte er in seiner Arbeit innegehalten, zulange den gespenstischen Todestanz seines Armes bestaunt. Zu oft war das Messer heruntergesaust, ohne ein Werkstück zu zerhacken - und nun protestierte die Maschine lautstark gegen diese unverzeihliche Verzögerung der Produktion.

Ein zweites Mal ertönte das durchdringende Jaulen

...und riss R. endgültig aus seiner Starre.

Panikartig zuckte sein Armstumpf in Richtung des Stapels.

Und erst als er kein Werkstück zu fassen vermochte, begriff R., was da wirklich geschehen war. Einen Atemzug lang nur war er unachtsam gewesen, hatte die Hand um ein Augenzwinkern zu spät zurückgezogen und das herabsausende Messer hatte, mit der ihm eigenen Gleichgültigkeit, den Arm ein Stück oberhalb des Ellenbogens abgetrennt - mit einem sauberen Schnitt - exakter vielleicht, als so mancher Chirurg es vermocht hätte.

Aus dem Stumpf floss nun in dicken Strömen Blut, und R. erkannte, dass er bald ebenso leblos auf dem Fabrikboden liegen würde wie sein Arm, wenn es ihm nicht rasch gelang, die Blutung zu stoppen. Mit der Linken löste er daher den Gürtel seiner Hose und zog ihn mühsam aus den Laschen. Dann schlang er ihn um den Armstumpf und versuchte verzweifelt, ihn festzuzurren.

Begleitet wurden seine Bemühungen neben dem beständigen Heulen der Maschine vom Lachen und den Anfeuerungsrufen der Arbeitslosen die hinter R.s Platz standen, ihm amüsiert zusahen und gute Ratschläge erteilten, vor allem aber Wetten darauf abschlossen, ob R. es wohl schaffen würde, die Blutung rechtzeitig zu stillen - wobei ganz klar war, dass im Grunde die ganze Meute hoffte, er würde auf der Strecke bleiben.

Aber R. gab nicht auf und schließlich gelang es ihm doch, unter Zuhilfenahme der Zähne, den Gürtel mit einem heftigen Ruck zuzuziehen.

Der Schmerz raubte ihm beinahe die Besinnung.

Aber die Blutung versiegte fast völlig - wurde zu einem langsamen, dafür aber stetigen Tropfen.

R. klammerte sich mit der Linken an der Maschine fest, um nicht einfach umzufallen. Er holte ein paar Mal tief Atem, drehte sich dann um und sah dem vordersten der Arbeitslosen triumphierend ins Gesicht.

,,Noch nicht!“, sagte er.

Der Mann lachte nur - ein bellendes, schadenfrohes Lachen.

Er war nahezu zwei Meter groß, hatte schwarze Haare und ein grobschlächtiges - und wie R. fand - sehr unsympathisches Gesicht, dem das Lachen noch dazu etwas Wölfisches verlieh.

Der Mann war der erste in einer langen Reihe von Arbeitslosen, die Tag für Tag hinter R.s Platz standen und ihm bei der Arbeit zusahen. Dafür bekamen sie ein geringes Entgelt. Zu viel um zu verhungern, aber auch viel zu wenig zum Leben. Und doch kamen sie jeden Tag wieder. Sie standen da und lauerten, dass R. einen Fehler beging, der ihm den Job kostete - oder ihm auch ein Unglück passierte. Denn dann, das wussten sie, würde der erste in der Schlange R.s Platz einnehmen und die anderen einer möglichen Arbeit immerhin ein Stückchen näher rücken.

Und eines war allen klar: Niemand vermochte auf Dauer, dem Druck von zwanzig unerbittlichen Augenpaaren standzuhalten.

Der große Mann lachte noch immer.

Offenbar war er überzeugt, nun bald an R.s Stelle treten zu können - was regelmäßiges Essen und soziale Anerkennung für ihn und seine Familie mit sich bringen würde.

R. schüttelte nochmals entschieden den Kopf. So leicht würde er es ihm nicht machen. So schnell gab er nicht auf.

,,Noch nicht“, wiederholte er.

Entschlossen wandte er sich wieder der Maschine zu, schnappte sich ein Werkstück und legte es auf die Schneidefläche. Das Messer sauste herab und sofort verklang das durchdringende Heulen. R. tastete nach dem nächsten Werkstück und dem übernächsten.

Er arbeitete verbissen.

Nein, seinen Job würde so schnell kein anderer bekommen. Er würde beweisen, dass er auch mit nur einem Arm eine vollwertige Arbeitskraft war.

 

So eine Schweinerei!“ sagte da plötzlich eine raue Stimme.

Der Werkmeister war unbemerkt hinter R. getreten. Die Sirene hatte ihn alarmiert und der grauhaarige, kleine Mann war gekommen, um die Ursache für die Produktionsverzögerung festzustellen.

Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst.

Für R. war der Ausruf des Werkmeisters wie ein Messerstich mitten ins Herz. Plötzlich wurde ihm unendlich übel und erneut zuckte rasender Schmerz von der Schulter hoch ins Hirn. R. taumelte und fiel dann haltlos genau auf den Werkmeister zu. Der sprang rasch zur Seite, um seinen sauberen Anzug nicht mit Blut zu besudeln.

Hilflos prallte R. auf den harten Betonboden und blieb inmitten der großen Blutlache stöhnend liegen.

Der Werkmeister sah verärgert auf ihn hinab und winkte dann dem noch immer lachenden Arbeitslosen. Dieser fasste R. unter den Achseln und zog ihn von der Maschine fort. Der Werkmeister nickte ihm kurz zu.

,,Wisch’ das auf“, sagte er auf das Blut deutend ,,und dann“, er machte eine Kopfbewegung hin zu R.s Platz ,,an die Arbeit.“

Der Mann zögerte nur eine Sekunde lang. Dann zog er sein Hemd aus und begann damit, das Blut vom Boden aufzusaugen.

Der Werkmeister nickte zufrieden und wandte sich wieder R. zu, der sich mühsam aufrappelte. ,,Und du kommst mit mir.“

Er deutete auf den blutigen Arm. ,,Und nimm diesen Abfall mit.“

R. wankte.

Ihm war schwindelig. Langsam machte sich der enorme Blutverlust bemerkbar.

Und noch immer tropfte es unaufhörlich vom Armstumpf auf den Boden hinab.

Der Werkmeister sah es und schüttelte missbilligend den Kopf. ,,Schweinerei“ murmelte er nochmals und stapfte davon.

R. bückte sich mühsam nach seinem Arm, klemmte ihn sich unter die Linke und wankte mit unsicheren Schritten hinter dem Werkmeister her. Der sah kurz über die Schulter zurück: ,,Fall mir hier bloß nicht nochmals um, Mann. Der Arzt wird sich schon um dich kümmern.“

Während er sich durch riesige Hallen und lange Gänge schleppte, hatte R. noch einmal den Todestanz seines Armes vor Augen. Und er fühlte sich von dessen allzu offenkundigem Freudenausbruch über die Trennung vom Leib doch etwas schockiert. Fast schien es so, als hätte er nur auf eine Gelegenheit gewartet, um sich davonzumachen - und dabei war R. immer überzeugt gewesen, der Arm hänge sehr an ihm. Denn was hatten sie gemeinsam nicht alles erlebt, wie viele schwere Lasten gehoben, wie viele Faustkämpfe ausgefochten - und wie viele Frauen umarmt.

R. fühlte sich vom Arm ein wenig verraten, und er ertappte sich sogar bei dem flüchtigen Gedanken, dass der Tod im Grunde die angemessene Strafe für dieses undankbare Ding sei. Denn wohin sollte es führen, wenn jeder Körperteil oder jedes Organ sich nach eigenem Gutdünken vom Leib lösen dürfte - wenn es etwa der Lunge eines Tages einfiel, einfach den Dienst zu quittieren - allein bei dem Gedanken blieb R. die Luft weg.

Gerührt war R. hingegen über das Verhalten der Hand. Der Gedanke an ihr verstohlenes Winken, das er durchaus registriert hatte - ließ eine Welle der Zuneigung in ihm empor fluten. Und hatte er einen Moment lang mit dem Gedanken gespielt, den undankbaren Arm einfach wegzuwerfen - so tat er es nun schon um der Hand willen nicht. Und vielleicht gab es ja auch noch die Möglichkeit den Arm wieder mit dem Leib zu vereinen.

In früheren Zeiten, dachte R. bitter, hätte so ein Unfall gar nicht passieren können. Da verrichteten vollautomatische Maschinen derart monotone Aufgaben wie er sie gehabt hatte - doch inzwischen waren menschliche Arbeitskräfte eben wieder billiger, als teure Geräte.

,,Wir sind da“, sagte in diesem Augenblick der Werkmeister und riss R. aus seinen Gedanken. Er trat hinter dem kleinen Mann durch eine Tür.

 

Das Büro des Betriebsarztes hatte keine Fenster, nur eine Neonlampe verströmte ein unpersönliches Licht. Die Einrichtung war spartanisch. Ein Tisch, ein paar Sessel, eine Liege und ein offener Kasten mit allerlei Schächtelchen und medizinischen Gerätschaften darin. Die Wände waren völlig kahl. Es roch durchdringend nach Desinfektionsmittel.

Der Arzt, ein sehr großer, unglaublich dünner Mann in einem weißen Mantel, bot R. keinen Stuhl an.

Er besah sich die Wunde und schüttelte den Kopf. ,,Was für eine Vergeudung von Material“ sagte er, nahm R. den Arm aus der Hand und katapultierte ihn gekonnt in einen Abfalleimer. Dann griff er nach einigen medizinischen Geräten und machte sich am Stumpf zu schaffen. ,,Ich werde die Blutung stillen. Das ist keine Affäre. Du wirst diese dumme Geschichte überleben - wenn du dich zwei Wochen völlig ruhig verhältst. Sonst kann ich für nichts garantieren.“

R. starrte den Arzt an.

Er hatte gehofft - ja, worauf hatte er eigentlich gehofft? Ein Wunder? ,,Ich dachte, dass der Arm vielleicht wieder angenäht werden könnte“, murmelte er schließlich leise.

Der Arzt musterte ihn wie ein exotisches Tier, dann zog er die Augenbrauen hoch und lächelte verächtlich. ,,Natürlich könnte er das - aber wer bist du? Der Präsident der Firma persönlich? Du machst dir keine Vorstellung über die Kosten einer derartigen Operation. Und wozu soll es angesichts so vieler gesunder kräftiger Arme, die keine Arbeit haben, überhaupt gut sein, deinen Arm wieder anzunähen?

Denke doch ein wenig sozial.

Du hattest deine Chance.

Jetzt ist ein anderer dran - irgendein Familienvater, der die Seinen ernähren muss.“

R. dachte an den unsympathischen Kerl, der nun seinen Platz an der Schneidemaschine einnahm.

,,Ich habe auch Familie“, sagte er leise.

Der Arzt schwieg.

Er beendete seine Arbeit an R.s Armstumpf. ,,Es ist okay. Geh nach Hause und leg dich hin.“

R. stand noch einen Moment unschlüssig da, dann drehte er sich um, schritt zur Tür und öffnete sie. Doch er trat nicht hinaus, sondern verharrte im Eingang. Dann machte er mit einem Ruck kehrt, stapfte zum Abfalleimer und holte mit einem entschuldigenden Blick seinen Arm heraus.

,,Ich hänge trotz allem an ihm“, murmelte er.

 

 

 

 

Auf dem Gang vor dem Arztbüro wartete der Werkmeister.

,,Du kostest mich viel Zeit heute“, brummte er ärgerlich. ,,Und der Firma eine Menge Geld. Vermutlich will deswegen auch der Chef mit dir reden.“

R. wurde plötzlich wieder schwindelig.

Der Chef.

Noch nie in diesen zehn Jahren seit er in der Firma arbeitete, hatte er ihn persönlich gesehen. Der Chef, das war eine Lautsprecherstimme die manchmal Ansprachen hielt, zumeist gespickt mit Hiobsbotschaften über die Lage der Firma und der Ankündigung, dass in Zukunft eisern gespart werden müsse - was natürlich Lohnkürzungen bedeutete.

Zweimal waren kurz nach einer derartigen Rede Arbeitskollegen von R. zum Chef gerufen worden und nicht wiedergekommen. Man hatte sie freigesetzt geworden, wie R. später erfuhr.

R. hatte sich damals keine Gedanken über das Schicksal der beiden Männer und über die Perversität des Wortes ,,freisetzen“ gemacht. Er war sich sicher, dass ihm so etwas nicht passieren konnte - weil er hart arbeitete.

Aber jetzt war alles anders. Jetzt wollte der Chef ihn sprechen.

R.s Knie fingen an zu zittern.

Der Werkmeister warf einen missbilligenden Blick auf R.s abgetrennten Arm, sagte aber nichts. Er drehte sich um und ging voraus.

R. folgte ihm.

Wieder wanderten sie durch ein Labyrinth von Hallen, Gängen und Treppen. R. hatte nicht einmal gewusst, dass diese Bereiche des Unternehmens überhaupt existierten. Die Firma - das war für ihn immer die große Halle gewesen, in der er arbeitete, und vor allem natürlich die Schneidemaschine. Über die höheren Etagen hatte er sich nie Gedanken gemacht - sie lagen außerhalb seiner Welt, auch außerhalb seiner Vorstellungskraft - unerreichbar für ihn und eigentlich nur bedrohlich. R.s Streben hatte sich immer danach gerichtet, reibungslos zu funktionieren, nur nicht aufzufallen, seiner Rolle als kleines Rädchen im Getriebe gerecht zu werden - bis heute.

 

Endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, wie R. schien, betraten sie ein großes Vorzimmer. Auf dem Boden lagen schwere dunkle Teppiche. An den Wänden hingen große Gemälde - Portraits lauter ernst und streng dreinblickender Männer - vermutlich ehemalige Firmenchefs.

Zahlreiche technische Geräte standen im Raum - nach einem Muster angeordnet, das R. rätselhaft blieb.

Hinter einem großen Schreibtisch residierte eine elegant gekleidete Frau.

Sie warf R. einen kurzen abschätzenden Blick zu.

R. kam sich plötzlich sehr schmutzig und klein vor.

Der Werkmeister räusperte sich. Auch er schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. Ohne ihn anzusehen, gab ihm die Sekretärin einen kurzen Wink. Der Werkmeister verstand, drehte sich um und ging - nein, er floh förmlich aus dem Zimmer.

R. trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Er fühlte sich wie in Trance. War das noch sein Leben? War er tatsächlich heute Morgen zur Arbeit gegangen, genau wie an jedem anderen Tag in diesen 10 Jahren? War das was hier mit ihm passierte, die Wirklichkeit oder nur ein schrecklicher Alptraum?

R. fühlte noch immer den Blick der Sekretärin auf sich ruhen.

Doch nein, sie sah nicht ihn an.

Sie starrte mit einem Ausdruck größter Entrüstung auf seinen abgetrennten Arm. R. blickte hinab und wusste sofort, was die Frau so empörte. Denn noch immer tropfte Blut aus dem toten Fleisch und versickerte im Teppich. Auf dem wertvollen Gewebe war bereits ein großer roter Fleck zu erkennen.

Die Sekretärin bückte sich, kramte unter ihrem Tisch und warf R. dann ein großes Plastiksackerl zu.

R. verstand.

Mit einem gemurmelten Dank bemühte er sich, den toten Arm darin zu verstauen, was mit nur einer Hand ein schwieriges Unterfangen war. Aber schließlich gelang es ihm und R. klemmte sich das Sackerl unter die Linke.

Ein Summen ertönte.

Die Frau nickte R. zu: ,,Geh hinein.“

 

R. bekam plötzlich keine Luft mehr.

Sein Gesicht wurde weiß wie ein Bettlaken. Doch seine Füße setzten sich in Bewegung - so als würden sie von einem fremden, mächtigeren Willen als seinem eigenen angetrieben.

R. schritt durch die Tür und betrat ein riesiges Büro.

Die Fenster waren verdunkelt.

In kaltem Neonlicht saß der Chef hinter einem riesigen Schreibtisch. Zahllose Telefone standen auf der Arbeitsfläche. Die Kabel liefen unter dem Tisch hervor in alle Richtungen. Unwillkürlich musste R. an eine riesige Spinne denken, die in ihrem Netz saß und auf ihre Opfer lauerte.

,,Komm näher!“, sagt der Chef.

Seine Stimme klang rau. Er hatte eine riesige Zigarre im Mund und paffte vor sich hin. Dicht unter der Decke des Raumes hingen graue kalte Wolken aus Rauch. Die Luft war stickig. R. kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an und wagte sich ein Stück weiter vor.

,,Noch näher!“ sagte der Chef.

Er war ein glatzköpfiger, unglaublich dicker Mann und schien mit seinem Stuhl und dem Schreibtisch regelrecht verwachsen.

R. fragte sich unwillkürlich, ob er wohl je dieses Zimmer verließ.

Der Chef musterte ihn eindringlich.

,,Du bereitest mir Unannehmlichkeiten“!

Er sagte das völlig emotionslos. Eine Feststellung.

R. konnte nicht antworten.

Ihn überkam plötzlich ein Gefühl unendlicher Schwäche und ohne etwas dagegen tun zu können, kippte er vornüber und fiel aufs Gesicht.

Der Anflug eines Lächelns huschte über das Antlitz des Chefs.

Er nahm R.s Sturz als Demutsgeste - etwa so wie einen Kniefall.

Und der Chef hatte etwas übrig für Unterwerfung - sie rührte seine Herz, das trotz aller gegenteiligen Gerüchte in seiner Brust schlug - denn sie verlieh ihm mehr als alles andere das Gefühl absoluter Macht.

Der Chef weidete sich noch einen Augenblick lang an dem hilflos am Boden liegenden Mann, dann drückte er auf einen Knopf auf der Unterseite des Schreibtisches. Wie von Geisterhand bewegt, wuchs direkt neben R. ein Stuhl aus dem Boden. R. griff mit der Linken nach der Lehne, und zog sich eine Entschuldigung hauchend mühsam hinauf.

Der Chef wartete bis er saß.

Glaub nur nicht, dass du mit der Mitleidsmasche bei mir Eindruck machen kannst. Ich weiß selbst all zu gut, was Schmerzen sind. Seit Jahren habe ich Geschwüre im Magen. Das kommt von den Sorgen über die Firma - und vor allem von Problemen, die Leute wie du mir bereiten.“

R. wurde in seinem Sessel noch ein Stück kleiner, duckte sich furchtsam - wie ein Hund, dem man eben eine Tracht Prügel angedroht hatte. Der Chef blickte lange auf einen Computer-Bildschirm.

,,3562 Krediteinheiten“, sagte er schließlich. R. starrte ihn verständnislos an. ,,3562 Krediteinheiten“, wiederholte der Chef. ,,Das ist die Summe, die dein Unfall die Firma heute schon gekostet hat. Angefangen von der Produktionsverzögerung, über die Arztgebühren“, er schaute nochmals auf den Bildschirm und runzelte die Stirn ,,bis hin zu Reinigungskosten für den Teppich im Vorzimmer. Von der Zeit, die ich jetzt mit dir vergeude, gar nicht zu sprechen.“

 

R. wurde erneut schwindelig.

3562 Krediteinheiten - das war beinahe dreimal soviel, wie er im Jahr verdiente.

,,Aber das ist leider noch lange nicht alles“, sagte der Chef. ,,Da kommen noch enorme Folgekosten auf uns zu.“

,,Folgekosten“, echote R.

,,Die Folgekosten für die Gesellschaft natürlich. Da du nicht soviel Anstand hattest, bei deinem Unfall zu sterben, wirst du als Einarmiger der Gemeinschaft auf der Tasche liegen.“

Der Chef sah R. verächtlich an.

An deine Frau denkst du wohl überhaupt nicht. Sie wäre die Witwe eines verunglückten Arbeiters gewesen. Zwar arm - aber doch mit einer bescheidenen Rente, die es ihr erlaubt hätte, sich und die Kinder bei eiserner Sparsamkeit durchzubringen. Du aber machst sie zur Frau eines invaliden Schmarotzers. Sie wird betteln müssen - und die Leute werden sie vor Verachtung anspucken.

Aber dir ist das offenbar ja gleichgültig. Du denkst nur an Dich.“

R. antwortete nicht.

Ihm schwirrte der Kopf, und die schmerzstillenden Mittel, die der Doktor ihm verabreicht hatte, begannen schon wieder an Wirkung zu verlieren. In seinem Armstumpf pochte es.

Ein Arbeitsunfall - dozierte der Chef indessen - sei eine Rücksichtslosigkeit der Firma gegenüber. ,,Wenn du gestorben wärst, dann hätten wir die Prämie für einen frei gewordenen Arbeitsplatz kassieren können. Aber nein - du überlebst.

Und das heißt, dass die Firma nun Strafe zahlen muss, weil sie einen Sozialschmarotzer produziert hat.“

Er starrte R. wütend an und schüttelte den Kopf.

,,Ein derart asoziales Subjekt wie du ist mir schon lange nicht begegnet.

Du hackst dir die Hand ab und lebst munter weiter. Kostest der Firma Geld. Und das in einer Zeit, wo es angesichts der angespannten Wirtschaftslage ohnehin auf jede Krediteinheit ankommt.“

Die Stimme des Chefs wurde noch um eine Nuance eisiger.

,,Wir haben den Unfall noch nicht bekannt gegeben. Die Meldung wird erst morgen erfolgen. Bis dahin hast du Zeit, eine Entscheidung zu treffen.“

Er entließ R. mit einem unmerklichen Wink der rechten Hand.

 

Als R. auf den Gang hinaustrat, lehnte er sich an die Wand und rang mühsam nach Atem. Er fühlte sich unendlich schwach. Seinen toten Arm hatte er sich wieder unter den Arm geklemmt - das schmutzige Plastiksackerl der empörten Sekretärin zugeworfen.

Suchend blickte er sich nach dem Werkmeister um, doch der hatte offenbar das Weite gesucht oder ihm war befohlen worden, an seine Arbeit zurückzukehren.

Ratlos stand R da.

Wie sollte er nun den Ausgang finden?

Schließlich ging er einfach den langen Gang hinunter bis zur nächsten Tür. Dahinter schloss sich erneut ein Gang an, und an dessen Ende wartete wieder eine Tür. Als R. hindurch trat gelangte er in eine große Halle mit Maschinen. Alle standen still und kein Mensch war zu sehen. R. durchquerte den Raum, ging durch eine weitere Tür und kam wieder in einen scheinbar endlosen Gang.

Bald wusste R. nicht mehr, wie lange er schon durch die Fabrik irrte. Er verlor auch jede Orientierung.

Seine Beine zitterten und sein Armstumpf fing wieder stärker zu bluten an.

Die Worte des Chefs gingen ihm nicht aus dem Kopf.

,,An ihre Frau denken Sie wohl gar nicht.“

Seine Frau.

Was würde sie sagen? Wie würde sie das Unglück bewältigen, in das sein Unfall die Familie stürzte?

R. öffnete die nächste Tür...

 

...und stand plötzlich in der Küche seiner kleinen Wohnung.

Seine Frau deckte gerade den Tisch. ,,Du kommst spät heute“, sagte sie ohne ihn anzusehen.

,,Ja“, antwortete R verwirrt.

Wie war er hierher gekommen?

,,Das Essen ist gleich fertig. Du kannst dich schon hinsetzen“, sagte seine Frau.

R. ließ sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Seinen toten Arm legte er auf den Tisch, zwischen die Teller.

Sein Frau schien es nicht zu bemerken. Sie setzte sich und begann, Suppe auszuschenken.

,,Die Kinder?“, fragte R.

,,Sie schlafen“, antwortete seine Frau.

Sie vermied es, R. ins Gesicht zu sehen.

R. war klar, dass sie schon vor seinem Eintreffen vom Unfall erfahren, aber offenbar beschlossen hatte, die Sache zu ignorieren.

Seine Frau fing an, ihre Suppe zu löffeln.

R folgte ihrem Beispiel.

Aber schon nach dem ersten Schluck der heißen Brühe überkam ihn ein überwältigendes Übelkeitsgefühl, und er bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um nicht einfach auf den Tisch zu kotzen.

Seine Frau hatte zu Essen aufgehört und starrte nun mit leeren Augen vor sich hin.

,,Ich werde dieses Haus vermissen“ - sagte sie unvermittelt.

,,Ja“, antwortete R.

Seine Frau begann zu weinen.

Dann sah sie ihm plötzlich direkt in die Augen.

,,Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du das unseren Kindern antun?“

In einem plötzlichen Wutausbruch sprang sie auf und wischte R.s Arm samt Teller und Suppe vom Tisch.

,,Nimm dieses scheußliche Ding da weg“, schrie sie.

R. schwieg.

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Dann stand er auf und ging zu seiner Frau, um sie mit der Linken zu umarmen und zu trösten. Doch sie wich vor ihm zurück.

Eine Weile stand R. unschlüssig da und sah sie an.

Dann zuckte er mit den Schultern, ging zum Tisch zurück und bückte sich nach seinem Arm.

Suppe vermischt mit Blut tropfte daran herab.

Als R. Richtung Kinderzimmertür schritt, zog er eine rötliche Spur über den Küchenboden.

R. warf noch einen Blick zurück. Seine Frau hatte jetzt ihr Gesicht in den Händen vergraben und weinte hemmungslos.

R. trat durch die Tür...

 

...und stand plötzlich vor einer elenden, aus verfaulten Brettern notdürftig zusammengenagelten Baracke. Die armselige Hütte sah sehr wackelig aus. Ihre Bewohner mussten wohl jeden Augenblick in der sie sich darin aufhielten, fürchten, dass ihnen das Dach auf den Kopf fiel.

Die windschiefe Hütte war nur eine von vielen. So weit R.s Blick reichte, stand da eine armselige Behausung neben der anderen. Aber es war kein Mensch zu sehen. Der Boden zwischen den Baracken war schlammig und mit fauligem Müll übersät. Ein unglaublicher Gestank kroch R. in die Nase und verursachte ihm erneut Brechreiz.

R. trug noch immer seinen Arm in der Linken und noch immer tropften davon Suppe und Blut hinab auf den Boden.

R. hörte Motorengeräusch.

Eine riesige schwarze Limousine mit verdunkelten Fenstern schob sich auf der breiten morastigen Straße heran, die das Armenviertel wie ein mächtiger Fluss in zwei Ufer teilte.

Das Auto hielt direkt vor der Hütte, vor der R. stand.

Der Fahrer stieg aus, lief um das Fahrzeug herum und öffnete die Tür zum Passagierraum. Ein Mann in einem eleganten grauen Anzug verließ den Wagen. Ihm folgte eine blonde Frau. Sie trug ein extravagantes rotes Kleid.

Der Mann sah auf die Hütte.

,,Hier ist es“, sagte er und machte ein paar Schritte auf den Eingang zu.

Die Frau hielt ihn zurück.

,,Es ist nicht richtig. Wir sollten wieder fahren“, flehte sie.

Der Mann schüttelte entschieden den Kopf.

,,Nein! Du weißt genau, dass es die einzige Chance ist, die unser Sohn hat, je wieder gehen zu können. Auf dem offiziellen Markt ist derzeit kein passendes Bein zu haben. Und wir können nicht mehr warten. Sonst wird die Operation unmöglich.“

,,Aber es wird der Fuß eines Arbeiterkindes sein, des Sohnes eines Sozialschmarotzers“, warf die Frau ein. ,,Unser Junge wird Zeit seines Lebens mit diesem Makel behaftet sein. Ist es da nicht besser, er hat nur ein Bein?“

Der Mann nahm ihre Hand und streichelte sie sacht.

,,Er wird nie erfahren, woher das Bein stammt. Und auch sonst niemand. Ich habe einen verschwiegenen Arzt gefunden, der die Operation durchführt. Glaub mir, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, hätte ich sie genutzt. Aber es gibt keine.“ Der Mann ballte die Rechte zur Faust. „Verdammt - wie oft habe ich diesen dummen Unfall schon verflucht.“

Er holte tief Atem.

,,Komm jetzt!“, sagte er und zog die Frau hinter sich durch den nur mit einer Decke verhüllten Eingang der Hütte.

R. zögerte einen Moment. Dann folgte er den beiden.

Seine Augen brauchten eine Weile, um sich an das Halbdunkel im Raum zu gewöhnen. Es gab so gut wie keine Einrichtung. Nur einen kleinen gusseisernen Ofen und eine hölzerne Truhe mit ein paar Töpfen darauf. Der Boden war mit zerschlissenen Decken ausgelegt. In der Mitte der Hütte stand ein wackeliger Sessel und darauf saß eine grauhaarige Frau. Ihr fehlten das rechte Bein und der linke Arm.

R. starrte die Frau fassungslos an.

Denn obwohl ihr Gesicht viel älter aussah, als er es in Erinnerung hatte, hatte er sie doch sofort erkannt.

Es war seine Frau.

Aber was war mit ihr geschehen?

Neben ihr standen ein halbwüchsiges Mädchen und ein kleiner Junge mit nur einem Arm der sich ängstlich an sie klammerte.

R. seufzte tief.

Es waren seine Kinder - zwar ebenfalls älter - aber zweifellos seine Kinder.

Der Mann im Anzug hatte mit seiner Frau ein paar Worte gewechselt und deutete nun auf den Jungen.

,,Ist er das?“

R.s Frau nickte. Sie weinte bitterlich und drückte den Buben mit ihrem Arm an sich. Der Junge schluchzte ebenfalls. Schließlich gab ihn seine Mutter frei.

,,Geh jetzt“ sagte sie zu ihm.

Der Mann im Anzug nahm dem Jungen die Entscheidung ab. Er packte ihn bei den Schultern und schob den sich heftig Sträubenden durch den Ausgang. Bevor er selbst die Hütte verließ, drehte sich der Mann im Anzug noch einmal um: ,,Sie sollen sehen, dass wir keine Unmenschen sind. Ich verdopple den Preis, den wir vereinbart haben. Und sie werden zusätzlich zwei Rollstühle erhalten. Einen für sich selbst und einen für den Jungen.“

R.s Frau nickte, sagte aber nichts - doch als der Mann gegangen war, warf sie den Kopf in den Nacken und stieß einen fast unmenschlichen Klagelaut aus.

Mein Junge, mein armer Junge!“

Das Mädchen umfasste sie mit beiden Armen und drückte sich an sie.

,,Das nächste mal werde ich gehen“, sagte die Kleine entschlossen.

Ihre Mutter schüttelte entschieden den Kopf. ,,Nein, du musst deine Arme und Beine behalten. Denn dein Bruder und ich, wir brauchen jemand, der gehen kann und Hände hat, um zuzupacken.“

Ihre Stimme erstarb zu einem Flüstern.

Mein Gott, wie gerne würde ich mein zweites Bein geben, um seines zu retten.“

Sie wischte sich mit einem Tuch die Tränen vom Gesicht.

Mein armer Junge“, sagte sie noch einmal. „Aber wir brauchen das Geld, um zu überleben. Wir können uns damit wieder zwei Jahre über Wasser halten. Und dann werden wir weitersehen.“

R. hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört.

,,Was tust du da“, schrie er. „ Du verkaufst das Bein unseres Sohnes?“ Er stürzte auf seine Frau zu, um sie zu schütteln. Aber er griff durch sie hindurch. Und auch sie nahm ihn nicht wahr.

R. fiel zu Boden und blieb schluchzend liegen.

,,Gott vergebe mir“ , sagte seine Frau. „Aber manchmal wünsche ich mir, euer Vater wäre damals sofort bei dem Unfall gestorben und nicht erst drei Monate danach. Dann hätte ich eine kleine Rente. Nicht viel - nicht genug um nicht zu hungern - aber genug um zu überleben. Und wir müssten nicht unsere Arme und Beine verkaufen.“

Sie blickte zur Decke der Hütte empor und rief wütend R.s Namen.

,,Sieh nur! Sieh nur, was Du uns angetan hast!“

R. rappelte sich auf. Ihn hielt es nicht mehr in der Hütte.

Er konnte den Anblick seiner Frau nicht mehr ertragen. Und er wollte nicht zulassen, dass man seinem Sohn nach dem Arm auch noch einen Fuß abschnitt und einem anderen Kind annähte. Er musste es verhindern. Er musste den Wagen aufhalten, musste...

R. warf sich durch den Ausgang...

 

 

...und lag plötzlich wieder in einem der langen Gänge der Fabrik.

Seinen abgetrennten Arm hielt er noch immer in der Linken.

Mühsam rappelte sich R. empor und lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. Er atmete tief durch.

,,Ich muss das Bewusstsein verloren haben - und hatte einen Alptraum“, dachte er.

R. schüttelte den Kopf, um die Schreckensszenen aus seinem Kopf zu vertreiben. ,,Ich kann nicht zulassen, dass es soweit kommt!“, murmelte er.

Er wollte sich gerade aufrichten, als er plötzlich ein ungeheures Getöse vernahm.

Es klang wie ein gewaltiges Hämmern, dem Augenblicke danach ein berstendes Krachen folgte - so als würde eine metallene Tür mit unerhörter Gewalt aus der Mauer gerissen.

Einen Augenblick lang herrschte Stille.

Dann hörte R. ein seltsames Quietschen und Scharren. Ein gewaltiges Ding schien sich da, durch zu enge Gänge zu schieben. Näher und Näher kamen die unheimlichen Laute.

R. saß da und starrte an das untere Ende des Ganges.

Und plötzlich zerbarst mit einem gewaltigen Schlag das Mauerwerk. Die Tür kippte donnernd nach innen und im aufwirbelnden Staub schob sich eine gewaltige dunkle Masse darüber hinweg.

R. wurde starr vor Entsetzen und ein gequälter Aufschrei entrang sich seiner Brust. Denn das monströse Ding, das da einen Moment innehielt, und sich wie suchend umsah - war nichts anderes als die Schneidemaschine, an der er zehn Jahre lang Tag für Tag gearbeitet hatte.

Doch sie hatte sich auf schreckliche Art und Weise verändert. Sie war gewachsen und ihre Mitte war ein gewaltiges Maul in dem wie ein riesiges Fallbeil das Schneidemesser auf und ab zuckte. An den Seiten der Maschine ragten nun statt Hebeln stählerne Klauen aus dem metallenen Leib. Das Ungetüm bewegte sich auf Rollen vorwärts - und verursachte damit das eigentümliche scharrende Geräusch.

Die Maschine wirkte, als sei sie einem drittklassigen Horrorfilm entsprungen. Und doch kam sie, nach dem kurzen Moment des Zögerns, unaufhaltsam auf R. zu. Und ihre Absichten waren eindeutig. Ihre Klauen öffneten und schlossen sich und R. zweifelte keinen Augenblick daran, dass das Ungeheuer ihn damit packen wollte.

Nur noch wenige Meter war das alptraumhafte Ding von R. entfernt, da erwachte er endlich aus seiner Erstarrung.

Er rappelte sich auf, schnappte sich seinen Arm und lief so rasch er konnte, auf die Tür am Ende des Ganges zu. Er wagte es nicht, sich umzudrehen - aber der Lärm allein verriet ihm, dass die Maschine immer näher kam.

Mit letzter Kraft erreichte R. die Tür, riss sie auf, taumelte hindurch und schlug sie vor dem heraneilenden Monster wieder zu. R. rannte noch einige Meter weiter, dann sank er erschöpft zu Boden.

Ein paar Augenblicke später ließ erneut ein gewaltiger Schlag die Grundfeste des Gebäudes erzittern. Die stählerne Tür flog mit ungeheurer Wucht in den Gang und die Maschine dröhnte durch das entstandene Loch.

R. wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde, den nächsten Durchgang zu erreichen. Dennoch rappelte er sich auf und lief von letzter Verzweiflung getrieben weiter.

Nur einmal blickte er kurz über die Schulter zurück,

...und blieb wie angewurzelt stehen.

Denn die Maschine hatte plötzlich ein Gesicht. Das höhnische Antlitz des Arbeitslosen sah ihm, entstellt, aber doch deutlich erkennbar, entgegen, zerfloss und machte der gequälten Miene seines Chefs Platz. Und zuletzt blickte er in die verhärmten Züge seiner Frau.

R. sank zu Boden und schloß die Augen.

Alle Kraft hatte ihn verlassen, er konnte und er wollte auch nicht mehr fliehen. Aber in einem plötzlichen Wutanfall warf er der Maschine seinen toten Arm entgegen.

Friss du verdammtes Ungeheuer“, schrie er.

Das Monster fing den Arm mit seinem großen Maul geschickt auf und schwenkte ihn ein paar Sekunden lang wie eine Jagdtrophäe. Dann wurde er vom Fallbeil in kleine Stücke zerhackt.

R. schaute regungslos zu.

Augenblicke später erreichte ihn das Monster.

R. fühlte sich hochgehoben und mit dem Kopf voran in Richtung des riesigen Maules gezogen und dann...

 

...war R. plötzlich wieder in der Halle, wo er zehn Jahre lang Tag für Tag gearbeitet hatte. Die Maschine stand wie immer an ihrem Platz und sah ganz normal aus - eine typische Schneidemaschine.

Aber R.s Kopf lag unter dem Messer.

Und die Klinge sauste herab!

 

Der Kopf wirbelte durch die Luft.

Endlich von der Last des Körpers befreit, vollführte er einen beinahe ekstatischen Freudentanz. Jetzt konnte R. das Verhalten seines Armes kurz nach der Trennung vom Leib verstehen. Er fühlte sich plötzlich so unendlich leicht - und der Tod schien ihm tatsächlich ein angemessener Preis für diese paar Momente der Freiheit.

Seltsamerweise funktionierten R.s Sinne noch - und so vernahm er tosenden Applaus. Er riss die Augen weit auf und gewahrte eine Schar Leute, die sich rund um die Maschine versammelt hatte und nun enthusiastisch seine Enthauptung beklatschte.

Ganz vorne stand der ehemalige Arbeitslose, der endgültig R.s Aufgabe an der Schneidemaschine übernommen hatte. Er zwinkerte R. zu und streckte ihm die zur Faust geballte rechte Hand entgegen. Der Daumen deutete nach oben.

Dicht neben dem großen Mann erkannte R. den Werkmeister - ständig bemüht, mit seinem sauberen Anzug nicht an dem dreckigen Gewand des Arbeiters anzustreifen.

R.s Kopf drehte sich weiter.

Und plötzlich kam auch der Chef in sein Blickfeld. Er tippte auf einem kleinen Rechner herum und schien jetzt ganz zufrieden zu sein. Als er R.s Blick spürte, sah er kurz auf - und nickte ihm zu. ,,Ich gratuliere. Ein tödlicher Arbeitsunfall. Das war die einzig richtige Entscheidung“, lobte er.

R. hatte Mühe, den Sinn der Worte zu erfassen. Seine Denkprozesse begannen sich zu verlangsamen.

Zuletzt sah R. seine Frau. Sie hatte den Jungen auf dem Arm und das Mädchen stand neben ihr. Die Kinder waren jetzt wieder so klein, wie R. sie kannte und auch seine Frau hatte wieder das richtige Alter.

In ihren Augen standen Freudentränen.

R. seufzte tief.

Seine Frau und sein Sohn würden nicht ihre Arme und Beine verkaufen müssen, um zu überleben. Sie würden es zwar nicht leicht haben, aber mit der kleinen Rente des Staates doch über die Runden kommen.

Alle, die da standen und seinen Tod beklatschten, wirkten zufrieden, fast fröhlich.

,,Wie leicht es doch ist, Menschen glücklich zu machen“, dachte R. erstaunt.

Er verzog sein Gesicht zu einem letzten bitteren Grinsen.

Dann klatschte der Kopf auf den Fabrikboden.

 

 

 

Mit diesem Text habe ich den zweiten Platz beim Max-von-der-Grün-Preis 1997 belegt.