Mein Buch "Das geraubte Lachen" wurde 2009 erstmals vom ASARO Verlag Sprankensehl in Deutschland gedruckt.
ISBN 978-3-939698-98-2
Jugendroman
Das geraubte Lachen
Tim, Lucy und Finn leben ein normales Leben – bis bei der „Satansvilla“, einer Ruine nahe ihres Zuhauses, ein unheimlicher Fremder auftaucht: Der schwarze Magier Malvagas. Die Kinder werden unversehens in einen uralten Konflikt hineingezogen. Sie treffen die Hexe Miranda Lunaris und erfahren, dass sie magische Kräfte besitzen. Um diese zu wecken, müssen sie aber zur „Insel des Erwachens“ reisen. Dort treffen sie den alten Magier E´´Tarun, der ihnen von der Auseinandersetzung berichtet, die seit Jahrhunderten zwischen Gut und Böse tobt: Sie erfahren, dass auch ihre Großeltern Magier waren und im Kampf gegen Malvagas gefallen sind.
Die Kinder entdecken tatsächlich ihre Zauberkräfte: Tim vermag die Magie der Maschinen zu nutzen und diese zum Leben zu erwecken, Lucy erschließt sich mittels einer silbernen Geige, die ihr die Feenkönigin geschenkt hat, die „Melodie des Lebens“. Es ist die Kraft, die die Schöpfung durchwirkt und sie verleiht Lucy große Macht. Finn trifft auf der „Insel des Erwachens“ auf ein uraltes Drachen-Ei und entdeckt in sich die Macht der Drachen und die Fähigkeit die Pfade zu begehen, die die Steine miteinander verbinden.
Als die Kinder auf die Erde zurückkehren, hat sich viel verändert. Während für sie nur zwei Tage vergangen sind, waren es dort drei Monate. Malvagas hat die Dämonen unterjocht und sie gezwungen sich in Laptops zu verwandeln. Mit ihrer Hilfe saugt er den Menschen das Glück und die Lebensfreude aus und sammelt es in einem magischen Speicher. Unglückliche, zornige Menschen geben ihm Macht. Malvagas will die Menschen gegeneinander aufhetzen, ein tausendjähriges Reich der Kriege errichten und sich am Hass und am Leid nähren. Es soll ein Reich sein, das er allein beherrscht.
Die Kinder sagen Malvagas den Kampf an ...
Es war eine stürmische Nacht!
Dunkle Wolken jagten am Himmel dahin, wie finstere, Unheil verheißende Dämonen. Immer wieder zuckten Blitze aus ihren tiefschwarzen Leibern auf die Erde herab und in deren fahlem, weißlichen Licht erschien Tim, der vom Rande des Kinderzimmerfensters vorsichtig ins Freie äugte, die riesige alte Eiche draußen im Garten wie ein bizarres, vielarmiges Ungeheuer. Der Junge duckte sich unwillkürlich - und begann sich im gleichen Augenblick selbst auszuschimpfen. „Was bist du doch für ein elender Hasenfuß. Dreizehn Jahre alt und hast Angst vor einem Baum. Da draußen gibt es keine Monster“, murmelte er. Die Moralpredigt half wenig, denn tief in seinem Inneren spürte der Junge nach wie vor Zweifel: Bei Tag mochte die Eiche ja ein ganz normaler, friedlicher alter Baum sein – aber um Mitternacht und noch dazu bei so einem schaurigen Gewitter ...?
Tim seufzte leise.
Dann gab er sich einen Ruck und hob entschlossen den Kopf, um erneut in den Garten hinaus zu spähen. Genau in diesem Augenblick erschütterte ein ungeheurer Donnerschlag das Land und Tim stand plötzlich nicht mehr beim Fenster sondern fand sich im Bett liegend wieder, das Gesicht auf das Laken gepresst und ein Kissen schützend über den Kopf haltend. Wütend über sich selbst warf er es zur Seite und sprang aus dem Bett.
„Unverbesserlich!“, murmelte er. „He, ich bin dreizehn Jahre alt!“, rief er sich dann selbst noch einmal ins Gedächtnis. „Und ich bin mutig!“ Das klang jetzt fast beschwörend.
Drüben in seinem Bett wälzte sich Finn herum und murmelte etwas Unverständliches. Tim hielt den Atem an. Das fehlte noch, dass dieser Quälgeist jetzt aufwachte. Doch sein kleiner Bruder schlief zum Glück weiter.
Tim seufzte und schüttelte den Kopf. So ging das nicht weiter mit ihm. Wenn er wenigstens gewusst hätte, woher diese Angst vor Gewittern rührte, warum ihn jeder Donnerschlag bis ins Mark erschütterte. Aber egal, er wusste, dass es nur ein Rezept gab, die Furcht zu überwinden: Indem er sich ihr stellte – der Gefahr ins Auge blickte. Also holte Tim tief Luft ging mit festen Schritten erneut zum Fenster und blickte hinab in den Garten. Er schwor sich, nicht mehr wegzuschauen - nicht eine Sekunde lang, bis dieses verfluchte Unwetter endlich vorbei war.
Das Gewitter erschien Tim überhaupt sehr seltsam – es war so heftig wie keines zuvor an das er sich erinnerte und es schien schon seit mindestens einer Stunde genau über dem Dorf zu stehen, fast so als habe es das kleine verschlafene Nest als Ziel seiner elementaren Wut auserkoren.
Wieder zuckte ein Blitz über den Himmel, ein heftiger Windstoß rüttelte an den Fensterläden und plötzlich prasselten hühnereigroße Hagelkörner gegen die Scheiben. Tim duckte sich erneut – aber diesmal nur ein wenig – und wunderte sich, dass das Glas diesen Eisbeschuss überhaupt aushielt. Schon wieder rollte der Donner. Das Unwetter hatte seinen Höhepunkt offenbar noch immer nicht überschritten, sondern nahm an Heftigkeit weiter zu. Der nächste Blitz zuckte über das Firmament und erleuchtete die Umgebung des Hauses fast taghell. Unwillkürlich glitt Tims Blick hinüber zum nahen Hügel, auf dessen Spitze dunkel und unheimlich die Satans-Villa thronte.
Es war ein großes, altes, windschiefes Haus, das aber mindestens so unheimlich aussah wie ein altes Spukschloss. Tim und seinen Geschwistern war das Gebäude nicht geheuer und deshalb hatten sie ihm den Namen Satans-Villa gegeben. Aber nicht nur ihre Fantasie wurde von dem alten Haus inspiriert. Es rankten sich zahlreiche Geschichten darum und jene die nur davon erzählten, dass es darin spukte, waren bei weitem die harmloseren! In anderen war von Mord und noch schlimmeren Verbrechen die Rede.
Plötzlich zuckte Tim zusammen.
Er rieb sich die Augen. Konnte es sein …?
Angestrengt starrte er hinaus in die Nacht und wartete diesmal fast ungeduldig auf den nächsten Blitz.
Und der kam.
Tim schaute hinüber zur Satans-Villa.
Tatsächlich! Er hatte sich nicht getäuscht.
Dort vor dem Haus stand eine kleine dunkle Gestalt.
Etwas Seltsames ging von ihr aus – eine ... Drohung, ja – Tim spürte, dass das Geschöpf das dort stand böse war – abgrundtief böse.
Das Unwetter schien der Gestalt nichts auszumachen, als könnten ihr der Regen und die Hagelkörner gar nichts anhaben.
Das Licht des Blitzes verblasste und Tim erwachte wie aus einem Traum.
Er schüttelte sich. War da tatsächlich eine Gestalt, oder hatte ihm seine Fantasie einen Streich gespielt? Nein, Tim wusste, dass dort drüben ein Fremder stand.
Wieder glaubte der Junge die Drohung zu spüren und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Wer mochte so verrückt sein, in einer Nacht wie dieser zu dem alten verfluchten Haus hinaufzusteigen ...?
Erneut zuckte ein Blitz auf.
Tim spähte hinüber. Die unheimliche Gestalt stand reglos doch der Junge spürte, dass sie genau in seine Richtung sah. Tim konnte sich ihrem Blick nicht entziehen. Er fühlte, wie eine unglaubliche Kälte in ihm emporkroch, in Windeseile von den Zehen bis zu den Haarspitzen. Er begann zu bibbern und mit den Zähnen zu klappern.
Da – endlich – verblasste der Blitz.
Tim atmete auf. Doch zu früh. Die Finsternis brachte keine Linderung. Der Junge fühlte den Blick der Gestalt noch immer auf sich ruhen und die Kälte in seinem Inneren nahm weiter zu. Plötzlich verspürte Tim den unbezähmbaren Wunsch, zu dem Unbekannten hinüberzugehen. So wie er war, im Pyjama und barfuß machte er sich auf den Weg, schlich leise die Treppe hinunter, öffnete die Wohnungstür und trat ins Freie hinaus. Draußen sprang ihn der Regen an, innerhalb von Sekunden war er völlig durchnässt und der Pyjama klebte an seinem Körper. Tim hielt an und fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen. Wieder war es ihm, als erwache er aus einem bösen Traum.
„Was tue ich da eigentlich?“, murmelte er leise.
Tim schüttelte sich, um den Bann zu brechen, der in gefangen hielt.
Vergeblich. Diese Augen! Tim konnte ihren Blick spüren. Sie waren noch immer auf ihn gerichtet – und sie befahlen ihm zu kommen. Der Junge blickte hinüber zur Satans-Villa. Er vermochte nichts zu erkennen, aber er wusste, dass diese seltsame unheimliche Gestalt dort regungslos im Regen stand und lautlos nach ihm rief. Tim spürte in seinem Herzen, dass er nicht hinübergehen durfte - er konnte die Gefahr förmlich riechen. „Ich muss mich wehren“, dachte er, doch noch während dieser Gedanke durch seinen Kopf schoss, setzten sich seine Füße ohne sein Zutun in Bewegung. So sehr Tim auch dagegen ankämpfte, er ging weiter in Richtung Satans-Villa. Der Wind peitschte nach wie vor dichte Regenschwaden über das Land und die Böen wurden so stark, dass sie Tim beinahe umwarfen. Doch der Junge ging weiter.
Er konnte nicht anders, der Ruf war zu stark.
Tim kam sich vor wie eine Figur in einem zweitklassigen Science-Fiction-Film. Er war bei klarem Verstand, hatte aber die Gewalt über seinen Körper völlig verloren. „Wenn das ein Albtraum ist, dann könnte ich jetzt schön langsam aufwachen ...“, murmelte er.
Insgeheim hoffte Tim ja, dass seine Eltern oder seine Geschwister bemerkten, dass er das Haus verlassen hatte und dass sie ihm nachkommen würden, um ihn zurückzuholen. Am liebsten hätte er in diesen Augenblicken laut nach seiner Mutter gerufen. Doch dass erlaubte er sich nicht - immerhin war er schon 13. Tim stolperte weiter durch die Nacht. Über ihm am stürmischen Himmel rumorte der Donner.
Und plötzlich war da eine grausame Stimme in seinem Kopf.
„Niemand wird kommen“, sagte sie.
Tim wusste sofort, dass er die Stimme des Fremden hörte und er fragte sich unwillkürlich ob dieser wohl seine Gedanken las.
„Du gehörst mir! Und das ist doch ein viel versprechender Anfang. Diese Nacht wird in die Geschichte eingehen. Die Nacht meiner Wiederkehr und die Nacht meines ersten Triumphs. Ein Feind wird besiegt, noch bevor er zur Gefahr werden kann ...!“
Die Stimme lachte und jagte Tim wieder kalte Schauer über den Rücken.
Der Junge spürte, wie ihm die Angst in die Glieder kroch. Die Stimme in seinem Kopf klang dünn, irgendwie durchscheinend, als sei sie nicht aus dieser Welt - ja fast so als läge der, der da redete im Grab und würde aus dem Jenseits mit Tim sprechen.
Der Junge versuchte zu antworten.
„Lass mich in Ruhe! Ich weiß nicht, was du von mir willst“, presste er mühsam hervor.
Offenbar war sein Widersacher überrascht, dass er überhaupt etwas zu sagen vermochte.
„Du bist stark“, sagte die Stimme mit widerwilliger Anerkennung. „Du leistest noch immer Widerstand. Vielleicht sollte ich dich sofort vernichten - nur um sicher zu gehen. Andererseits könntest du aber ein sehr nützlicher Diener sein, wenn erst dein Starrsinn gebrochen ist ...“
Tim war fast beim Haus angelangt. Er sah erbarmungswürdig aus. Immer wieder war er in der Finsternis gestolpert und hingefallen und jetzt war er von oben bis unten mit Schlamm beschmiert und hatte sich Gesicht, Arme und Beine zerkratzt. Der freie Wille des Jungen war in den letzten Winkel seines Bewusstseins zurückgedrängt – er registrierte alles, was geschah, aber ein Fremder lenkte seinen Körper.
Tim fühlte sich so elend wie nie zuvor, missbraucht und gedemütigt. Er wusste – nach diesem Tag konnte sein Leben nie mehr so sein, wie es bisher war – wenn es für ihn danach überhaupt noch ein eigenes Leben gab.
Wie auf Bestellung zuckte ein Blitz über den Himmel – und Tim sah vor sich die schattenhafte Gestalt des Mannes. Eine grauenhafte Kälte ging von ihr aus. Tim vernahm ein seltsames Geräusch und es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass es seine klappernden Zähne waren.
Noch einmal bäumte sich der Junge auf. Er musste hier weg, sonst würde etwas Furchtbares mit ihm geschehen, etwas viel Schlimmeres als der Tod.
Tim nahm alle Kraft zusammen und tatsächlich gelang es ihm für ein paar Augenblicke den fremden Willen abzuschütteln – er versuchte davonzulaufen, doch nach zwei, drei kleinen Schritten fühlte er wie der Fremde wieder nach ihm griff, härter, noch entschlossener als zuvor.
„Kleiner Narr! Es gibt für dich kein Entkommen“, höhnte die kalte Stimme in Tims Kopf.
Nun stand die schwarze Gestalt unmittelbar vor ihm. Der Junge sah in ein zeitloses Gesicht. Er hätte nicht zu sagen vermocht, ob der Mann vor ihm tausend Jahre alt war oder nur zwanzig. Tim musterte sein Antlitz – und plötzlich war ihm, als sei da etwas Bekanntes? Doch nein – der Junge war sich sicher, dass er den Fremden noch nie gesehen hatte. Erstaunt erkannte Tim, dass der Unbekannte einen gut sitzenden Anzug trug, er sah darin aus wie ein Kredithai aus irgendeinem Fernseh-Thriller und er war völlig trocken: Der Regen erreichte den Fremden nicht, als werde er von einem unsichtbaren Schild geschützt. Aber da war noch etwas anderes. Tim blickte nochmals in das Gesicht des Mannes. Es wirkte ... zersplittert – fast so als hätte man ein Puzzle zusammengesetzt. Die Augen des Mannes waren zwei schwarze Löcher. Es gab keine Pupillen, nur Finsternis – und von ihr schien ein Sog auszugehen.
Panik erfasste Tim, nackte, kalte Furcht vor dem Tod.
Wieder schien der Unbekannte seine Gedanken zu lesen.
„Nein, keine Angst. Du wirst nicht sterben - noch nicht. Du kannst mir vielleicht noch wertvolle Dienste leisten. Ich werde dein Bewusstsein einsperren – im Stein der tausend Qualen. Dort wird es bleiben, bis ich dich vielleicht irgendwann brauche ...!“
Der Fremde hielt plötzlich einen blauen Stein in der Hand und hob ihn vor Tims Gesicht. Darin fing sich etwas zu bewegen an, kroch schlangenhaft daraus hervor. Tim vermochte die Augen nicht abzuwenden und dann spürte er wie etwas sein Gesicht berührte, in seinen Kopf eindrang und an seinem Geist zerrte. Tim fühlte sein Ich zersplittern, es wurde förmlich auseinandergerissen, Stück für Stück wurde davon gewirbelt - Wissen, Erinnerungen, Gesichter. Zuletzt klammerte sich der Junge nur noch verbissen an seinen Namen. Er war das Letzte, was ihm geblieben war – wenn ihm auch dieses noch genommen wurde, dann war es vorbei ...!
Der Junge fühlte, wie er schwächer und schwächer wurde.
Noch einmal bäumte Tim sich auf.
„Ich heiße ... heiße ... heiße ...!“, stammelte er.
Der Unbekannte lachte in heiseren, dünnen Tönen – ein triumphierendes Lachen.
Doch plötzlich mischten sich da andere Laute darunter, schriller und übertrieben fröhlich - ein fast hysterisch klingendes Gekicher schallte durch die Nacht. Es wurde von Moment zu Moment lauter und es schien direkt vom Himmel herab zu kommen.
“Heiße... heiße ... heiße ...!“, murmelte der Junge noch immer.
Und plötzlich hörte der Sog auf.
„Tim!“, schrie Tim.
Von einem Augenblick zum anderen war er wieder er selbst, hatte wieder Kontrolle über seinen Körper und auch seine Erinnerungen waren wieder da.
Der blasse schwarze Mann stand vor ihm und starrte ihn bedauernd an.
Dann lächelte er böse.
„Wir bekommen Besuch! Auf meine gute alte Freundin ist Verlass. Sie erscheint immer dann, wenn man sie am wenigsten gebrauchen kann. Das war schon immer eine ihrer lästigsten Eigenschaften. Nun gut. Heute kommst du also noch einmal davon, denn ich bin noch zu geschwächt für einen offenen Kampf. Aber wir werden uns wieder sehen ...!“
Dann war er plötzlich fort, als hätte die Hölle ihn verschluckt.
Tim starrte auf die Stelle, wo der Fremde gerade noch gestanden hatte.
War das alles nur ein böser Traum gewesen?
Der Junge fühlte sich plötzlich unendlich schwach. Seine Beine knickten ein und er fiel nach hinten. Schwer schlug sein Kopf gegen einen Stein und die Sinne begannen Tim zu schwinden. Das schrille Lachen war jetzt genau über ihm und der Junge glaubte in dem Augenblick, bevor er endgültig das Bewusstsein verlor, ein Gesicht zu erkennen, das sich über ihn beugte, das Gesicht einer...!“
„Aaah!“
Tim fuhr mit einem Aufschrei empor.
Er zitterte am ganzen Körper und brauchte eine Weile, bis er begriff, wo er war.
Er saß in seinem Bett.
Tim kniff sich in den Arm, um zu sehen, ob er auch tatsächlich wach war. Es tat weh, also war er wach.
„Darf ich auch mal?“
Finn hatte sich im Bett gegenüber aufgesetzt und beobachtete ihn interessiert. Er war neun Jahre alt und hatte langes, lockiges, blondes Haar. Sein Gesicht trug einen schelmischen Ausdruck und in seinen blauen Augen blitzte der Schalk. Finn war der Sonnenschein in der Familie, Nichts konnte je seine gute Laune trüben – aber gerade diese Eigenschaft nervte Tim manchmal ganz schön.
„Was?“ fragte er geistesabwesend.
„Na dich zwicken!“
„Ach, lass mich in Ruhe!“ murmelte Tim. Er stand auf und sah prüfend an sich hinunter. Da waren keine Kratzer und der Pyjama war auch nicht zerrissen, noch nicht einmal schmutzig. Konnte alles nur ein Traum gewesen sein?
„Es war so real?“, flüsterte der Junge.
Tief in seinem Inneren glaubte er noch immer die eisige Kälte zu spüren, die der Fremde ausgestrahlt hatte und da war auch noch immer ein leiser Widerhall seiner grauenhaften Angst.
Nein, er konnte das alles nicht nur geträumt haben. Tim setzte sich wieder aufs Bett und massierte mit den Fingerspitzen seine Schläfen.
Finn sah ihm zu.
„Geht’s dir nicht gut?“, machte er einen neuen Anlauf ein Gespräch zu beginnen.
Diesmal war Tim nicht ganz so kurz angebunden.
„Es ist ... alles in Ordnung. Ich ... ich ... hatte nur einen seltsamen Traum!“, sagte er.
Finn nickte. „Ja du warst schon immer ein Traummännlein.“
Er duckte sich blitzschnell und normalerweise hätte Tim nach dieser Frechheit auch einen seiner Hausschuhe nach Finn geworfen. Doch an diesem Morgen tat er es nicht, mehr noch – er schien die Beleidigung gar nicht richtig mitbekommen zu haben.
Finns Grinsen verblasste. Er wurde plötzlich sehr ernst.
„Mir ging es auch so“, sagte er langsam. „Ich hatte auch einen Traum. Du kamst darin vor – oder vielmehr eben nicht. Du warst verschwunden ... und ... und ... da war ...! Ich kann mich nicht mehr erinnern, oder ich will mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls war ich froh, als ich aufwachte“, gab er zu. Das war sehr ungewöhnlich, weil er sonst immer den besonders Starken mimte. Finn schüttelte sich. „Ich glaube da draußen war etwas – und es hatte es auf dich oder auf uns abgesehen ...!“
Tim sah ihn prüfend an. Sagte Finn die Wahrheit, oder wollte er ihn nur erneut auf den Arm nehmen? Sein Bruder lachte plötzlich auf, aber es klang nicht sehr fröhlich. „He - wir sollten einen Gruselroman schreiben! Vermutlich hat uns nur das Unwetter diese unruhige Nacht beschert. Mann, so gewaltig gekracht hat es hier ja noch nie.“
Tim nickte.
Doch irgendwie glaubte er nicht an diese einfache Erklärung, die sein Bruder ihm da anbot. Sie war ... nun sie war zu einfach. Und da
war noch immer diese Ahnung von Kälte in seinem Inneren!
Tim fröstelte.
Finn sprang aus dem Bett und schlüpfte in seine Hose und sein T-Shirt. „Wie wäre es mit Frühstück. Wer zuletzt unten ist, ist eine Schnecke ...!“, schrie er, während er zur Tür hinaus stürmte.
Tim war nicht nach einem Wettrennen zumute – noch dazu nach einem, das er ohnehin nicht mehr gewinnen konnte. Er stand auf ging hinüber ins Bad, ließ sich kaltes Wasser über den Kopf laufen, rubbelte sich mit einem Handtuch ab, sah in den Spiegel und stieß einen entsetzten Schrei aus. Einen Atemzug lang hatte er im Glas das Gesicht des Fremden gesehen - mit diesen großen schwarzen Löchern, die seine Augen waren und einem diabolischen Lächeln um die Mundwinkel.
Tim begann, am ganzen Leib zu zittern. Er war sich jetzt sicher, dass er die Geschehnisse in der Nacht nicht nur geträumt hatte. Auf keinen Fall. Doch was wollte der Unbekannte gerade von ihm? Er hatte den Mann noch nie gesehen und er hatte ihm ganz bestimmt kein Leid zugefügt. Warum verfolgte dieser ihn also?
Tim seufzte und wusch sich das Gesicht. Er vermied es dabei, nochmals in den Spiegel zu schauen.
Der Junge zog sich an und ging hinunter in die Küche.
Sein Vater war bereits zur Arbeit gegangen, seine Mutter saß beim Tisch und strich gerade ein Schokoladebrot für Finn - mit ihrer üblichen Litanei, wie schädlich das eigentlich für dessen Gebiss sei und dass er wohl mit 12 keinen eigenen Zahn mehr im Mund haben werde. Finn saß da und nickte mit leidvoller Miene – ja, Schokoladebrote musste man sich in diesem Haus schwer verdienen ...!
„Guten Morgen, Mama“, sagte Tim und küsste seine Mutter auf die Wange. Dann setzte er sich auf seinen Platz.
„Hallo Schatz!“, sagte sie und blickte erstaunt auf die Uhr.
„Oh, unser Murmeltier ist heute aber früh dran. Normalerweise bist du am Samstag doch nie vor 10 Uhr aus dem Bett zu kriegen.“
„Ich habe nicht sehr gut geschlafen. Wahrscheinlich der Krach, den das Gewitter gemacht hat“, murmelte Tim ausweichend. Er wollte jetzt in Ruhe seinen heißen Kakao trinken – vielleicht würde das warme Getränk endlich diese verdammte Kälte aus seinem Inneren vertreiben und dann würde er sich vor den Fernseher setzen und sich irgendeinen Science-Fiction Film reinziehen - irgendwohin flüchten vor seinen Erinnerungen, vor den Ereignissen der letzten Nacht - auf einen fremden Planeten, oder noch besser in eine fremde Galaxis – je weiter weg desto besser ...!
Doch Ruhe war ihm vorerst nicht gegönnt.
„Ja, das hat gekracht! Ich dachte schon Armageddon wäre angebrochen ...!“, sagte Finn und warf theatralisch die Arme empor.
Tim betrachtete ihn skeptisch.
„Was weiß ein Naseweis wie du schon von Armageddon?“, brummte er.
Finn schnaufte. „Pah! Das ist die mythische Götterdämmerung. Der Begriff kommt in jedem dritten Katastrophenfilm vor. Fernsehen bildet eben. Also, so ein kleiner Armageddon, ein kleiner Meteorit, eine kleine Flutwelle – das wäre schon ein tolles Abenteuer!“
Plötzlich erklang eine dunkle Stimme, die die Wohnküche völlig ausfüllte, düster und bedrohlich.
„Und der Himmel verfinsterte sich ... und es folgten Blitze, Stimmen und Donner, es entstand ein gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es Menschen auf der Erde gibt, so gewaltig war dieses Beben. Alle Inseln verschwanden und es gab keine Berge mehr. Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab.“
Tim war als höre er den Donner und sehe die Blitze. Plötzlich stand er auf einem Berg, der unter ihm zerbrach und eine riesige Flutwelle türmte sich vor ihm auf. Jeden Augenblick würde sie auf ihn niederstürzen und ihn zermalmen ...!“ Er wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen.
Da sprach die Stimme wieder und die Vision verblasste. „So beschreibt die Bibel das Ende allen Lebens auf dieser Erde. Du solltest davor ein wenig mehr Respekt haben, junger Mann. Armageddon ist ganz bestimmt kein Abenteuer“, sagte sie mit leichtem Tadel, um dann plötzlich in ein schrilles Lachen auszubrechen.
Finn saß mit offenem Mund und ängstlichen Augen auf seinem Platz. Er sah aus, als wolle er sich jeden Augenblick unter dem Tisch verkriechen. Offenbar hatte er eine ganz ähnliche Vision gehabt wie Tim.
Mutter runzelte die Stirn.
Aber als sie Finn ansah, lächelte sie plötzlich – ein wenig schadenfroh, wie Tim fand.
„Ach ja, ich habe ganz vergessen, euch zu sagen, dass wir einen Gast haben!“, sagte sie und deutete ins Wohnzimmer. Tim starrte hinüber zu dem großen Lehnsessel vor dem Kamin, in dem heute – seltsam genug für einen Frühsommermorgen – ein munteres Feuer prasselte. Es war aber auch tatsächlich ungewöhnlich kalt.
Tim sah nur ein paar Beine in bunten Strümpfen und seltsamen altmodischen, schwarzen Schuhen, die auf dem kleinen Schemel vor dem Sessel lagen.
„Wir haben eine neue Nachbarin. Frau Miranda Lunaris“, erklärte ihre Mutter.
„Sie wohnt in der Satansvilla?“, entfuhrt es Finn.
Seine Mutter runzelte wieder die Stirn, ärgerlich diesmal. Sie mochte es nicht, wenn ihre Söhne solche Bezeichnungen verwendeten. Sie
wollte, dass sie mit beiden Beinen auf der Erde standen. „Wenn du das alte Haus am Berg meinst, dann ist das bestimmt keine Satansvilla – sondern ein Haus wie jedes andere. Aber natürlich wohnt
Frau Lunaris nicht dort, denn dazu ist das Gebäude in einem viel zu schlechten Zustand. Nein, sie hat das kleine Häuschen, unten bei den drei Eichen erworben und ist gestern erst eingezogen. Der
Sturm in der Nacht hat ihre Stromleitung gekappt und deshalb ist sie zu uns gekommen und um zu telefonieren und ich habe sie gebeten, doch eine Tasse Tee mit uns zu trinken. Ihr könnt euch gleich
mal vorstellen.“
Tim saß wie versteinert auf seinem Stuhl.
Das Haus bei den drei Eichen?
Es gab kein Haus bei den drei Eichen, hatte es noch nie gegeben. Er musste es wissen, denn die drei Eichen, das war sein Lieblingsplatz. Er hatte sich auf einem der Bäume eine kleine Hütte gebaut und verbrachte viel Zeit dort.
Was redete seine Mutter da eigentlich?
Und dann war da noch dieses Lachen.
Er kannte es, hatte es bestimmt schon einmal gehört ...!
„Na los schon, worauf wartet ihr?“, drängte seine Mutter.
Tim war jetzt tatsächlich sehr neugierig auf den Gast geworden. Er stand auf und ging langsam ins Wohnzimmer hinüber. Finn folgte ihm. Sie näherten sich dem Lehnsessel ganz vorsichtig, als habe sich darin ein exotisches Tier niedergelassen, das sie mit jeder hastigen Bewegung vertreiben könnten.
Endlich hatten sie den Stuhl umrundet. Darin saß, gemütlich zurückgelehnt, eine steinalte Frau oder zumindest wirkte sie auf den ersten Blick so. Doch je länger Tim hinsah, umso weniger konnte er ihr Alter wirklich einschätzen. Vielleicht war sie ja auch ein junges Mädchen?
„Genau wie bei dem unheimlichen Mann gestern“, murmelte Tim. Konnte es sein ...?
Er schüttelte den Kopf.
Nein, von dieser Frau ging keine Bedrohung aus. Eher im Gegenteil, sie wirkte freundlich, hilfsbereit und ihre strahlend blauen Augen vermittelten ein Gefühl der Geborgenheit. Sie blickten ihn wissend an. Tim war sich plötzlich sicher, dass die Frau über die Ereignisse der letzten Nacht genau Bescheid wusste. Sie trug ein grünes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte und das in starkem Kontrast zu ihren blaugelbrot gemusterten Strümpfen stand. In der rechten Hand hielt die Frau eine dampfende Tasse Tee.
„Guten Tag“, sagte Tim. „Ich bin Tim.“
„Ja, das dachte ich mir schon“, antwortete sie und lächelte ihm viel sagend zu.
Tim runzelte die Stirn. Sein Bruder drängte sich nach vorne.
„Und ich bin Finn!“
Die Frau musterte ihn neugierig. „Ach ja, der Abenteurer!“, sagte sie und lachte schon wieder. Genauso schrill wie zuvor. Da durchfuhr es Tim plötzlich siedend heiß. Er wusste jetzt, wann er dieses Lachen schon einmal gehört hatte – in der Nacht, kurz bevor er ohnmächtig wurde.
Er starrte die Frau erschrocken an.
Inzwischen war auch seine Mutter zu ihnen herüber gekommen.
„Sie sind zwei gute Jungs, auch wenn sie einem gelegentlich den letzten Nerv ziehen können“, sagte sie zu ihrem seltsamen Gast.
Die alte Frau nickte.
„Ja, so ist die Jugend eben. Waren wir nicht genauso?“
Finn starrte seine Mutter an, als könne er sich das ganz und gar nicht vorstellen. Doch sie schien plötzlich in Erinnerungen versunken.
Die Alte Frau sah nun Tim direkt in die Augen und nickte ganz leicht. Fast so als wollte sie sagen: „Ja, ich bin es!“
Dann nahm sie einen Schluck von ihrem Tee und dieser begann noch mehr zu dampfen. Plötzlich verdichtete sich der Rauch über der Schale, formte sich zu einer großen Wolke die aufstieg und dann mitten im Raum Buchstaben bildete.
„Schön, dich wohlauf zu sehen. Ich habe mir große Sorgen gemacht“, las Tim mit offenem Mund.
Tim war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Der Rauch veränderte sich, bildete neue Worte.
„Kommt heute Nachmittag zu mir, wir müssen miteinander reden“, stand da.
Tim starrte auf die Worte, dann auf seine Mutter.
Die alte Frau schüttelte unmerklich den Kopf und die Buchstaben veränderten sich.
„Sie kann die Schrift nicht sehen.“
Aber Finn konnte es offenbar und er war mindestens so verdutzt oder erschrocken wie Tim.
Erneut wechselten die Buchstaben.
„Kommt ihr?“
Tim sah Finn an und dann nickten sie plötzlich beide.
Wieder veränderte sich die rauchige Schrift.
„Bringt auch eure Schwester mit.“
Tim starrte die alte Frau an. Miranda Lunaris hatte inzwischen mit seiner Mutter ein Gespräch begonnen, über ganz alltägliche Dinge. Einkaufen, kochen, solche Sachen eben ...!
Doch Tim war noch nicht zufrieden.
„Wer sind Sie?“, fragte er in Gedanken.
Offenbar konnte die Frau ihn hören, denn sie blickte ihn kurz an und lächelte. Ihr Tee qualmte erneut und wieder schwebten Buchstaben aus Rauch in die Luft.
„Weißt du das nicht schon längst?“
Wieder erklang ihr schrilles Gelächter und der Rauch bildete den Satz:
„Ich bin eine Hexe!“
„Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, ich glaube euch kein Wort“.
Lucy stand da, die Arme in die Hüften gestützt und sah ihre Brüder streng an. „Heraus mit der Sprache, wer von euch hat sich diesen Unsinn ausgedacht.“
Lucy war elf Jahre alt und ungewöhnlich groß für ihr Alter. Sie hatte schulterlanges, gewelltes, blondes Haar und ein hübsches Gesicht mit einer zierlichen kleinen Stupsnase. Ihre grünen Augen blickten jetzt sehr skeptisch drein und um den Mund lag ein strenger Zug. Sie sah fast aus wie ihre Mutter, wenn diese wütend war.
Tim seufzte.
Er hatte vorausgesehen, dass Lucy ihnen nicht glauben würde, aber andererseits wusste er auch genau, wie er sie überzeugen konnte.
„He, du glaubst doch auch an Feen. Warum also nicht auch an Hexen? Und was vergibst du dir schon, wenn du mit uns kommst? Schlimmstenfalls ist kein Haus da.“
Lucy funkelte ihn an.
„Natürlich ist bei den drei Eichen kein Haus. Dort war noch nie ein Haus. Und wer sagt dir eigentlich, dass ich an Feen glaube?“
Mit dieser Frage brachte sie Tim nur zum Schmunzeln. Natürlich glaubte Lucy an Feen, sie hatte sämtliche Geschichten über diese Lichtwesen verschlungen. Ihr Vater hatte sie von klein auf „meine Fee“ genannt. Lucy war davon überzeugt, dass das Feenvolk noch existierte und auf eine geheimnisvolle Weise, dessen war sie sich sicher, war ihr eigenes Schicksal eng mit dem der Feen verbunden. Bislang hatte das Mädchen zwar noch nie eine Fee gesehen, aber der Tag würde kommen …!
Lucy starrte auf ihren grinsenden Bruder. Dann seufzte sie.
„Also gut, ich komme mit. Aber wehe, wenn das alles nur ein böser Scherz ist, dann könnt ihr etwas erleben. Eine Hexe, pah!“
Tim nickte ergeben. Dann fiel ihm etwas ein.
„Sag mal, hattest du nicht auch einen Traum in der vergangenen Nacht, einen Traum, in dem die Satansvilla eine Rolle spielte.“
Lucy sah ihn verwundert an.
„Ja! Tatsächlich. Ich hatte einen Traum und er war nicht angenehm.“
Sie schauderte plötzlich und sah aus dem Fenster hinüber zum Hügel.
„Etwas Böses haftet diesem Haus an. Eines Tages wird es erwachen und über uns kommen“, murmelte sie und es klang wie eine Prophezeiung.
Das mochte Tim so an seiner Schwester, ihre Art die Dinge beim Namen zu nennen.
„Vielleicht ist der Tag ja auch schon da!“, sagte er.
Lucy musterte ihn aufmerksam, dann nickte sie und schauderte erneut.
„Ja, vielleicht!“
Sie stand auf und ging zur Tür. „Na dann los“, sagte sie. „Die Hexe wartet! Ach übrigens: Hat sie eine Warze auf der Nase?“
„Natürlich! Und eine schwarze Katze sitzt auf ihrem Buckel. Und ihr Haus ist aus Lebkuchen“, antwortete Tim ...
... und genauso war es auch.
Die drei Kinder standen vor dem Haus unter den drei Eichen, dort wo bisher nie ein Haus gewesen war. Jetzt war auf alle Fälle eines da und es bestand aus wunderbar duftendem Lebkuchen. Finn konnte sich nicht lange zurückhalten. Er streckte die Hand aus, brach ein Stück herunter und steckte es sich in den Mund. Auch Tim spürte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Er liebte Lebkuchen, doch er unterdrückte den Wunsch, zuzugreifen.
Lucy sah Tim herausfordernd an.
„Na los, Hänsel. Klopf doch mal. Wir wollen sehen, ob deine Hexe da ist?“
Aber da ertönte aus dem Haus bereits eine knarrende Stimme.
„Knusper, knusper knäuschen, wer nascht an meinem Häuschen?“
Ein schrilles Lachen ertönte. Dann ging die Tür auf und eine alte Frau kam heraus die so aussah, als sei sie direkt einem Märchenbuch entsprungen: gebeugt, hässlich, mit einer Warze auf der Nase und einer schwarzen Katze auf dem Buckel.
Tim sah, wie Finn kreidebleich wurde. Mit vollen Backen und offenem Mund starrte er die Hexe an. Auch Tim musterte sie aufmerksam.
Dann musste er lachen.
Er hatte in ihre Augen gesehen - und die waren ganz und gar nicht böse. In ihnen funkelte der Schalk.
„Guter Versuch“, sagte Tim. „Doch so schreckhaft sind wir nun auch wieder nicht.“
Die Hexe lachte schrill und verwandelte sich. Vor ihnen stand plötzlich Miranda Lunaris und aus dem Lebkuchenhaus wurde ein kleines Häuschen aus Stein.
„Du musst zugeben, dass ich in der Rolle der Knusper-Hexe nicht schlecht bin. Einen Augenblick lang wart ihr doch verunsichert?“
Tim nickte widerwillig.
Miranda winkte den Kindern, ihr ins Haus zu folgen.
Die Tür öffnete sich von selbst.
Miranda Lunaris ging voraus.
Tim folgte ihr. Er musste sich ein wenig bücken, um durch die niedrige Pforte ins Haus treten zu können – doch kaum war er drinnen, blieb er wie angewurzelt stehen. Er fand sich plötzlich in einem riesigen Saal wieder, der einer mächtigen Ritterburg zur Ehre gereicht hätte. Tatsächlich standen da auch einige Rüstungen herum.
„Wow“, sagte Lucy, die hinter Tim hereingekommen war.
Finn sagte nichts sondern staunte nur mit offenem Mund.
Lunaris lächelte.
„Ja, es ist innen geräumiger, als es von außen den Anschein hat“, erklärte sie.
„Wie machen Sie das?“ fragte Tim.
Die alte Frau brach wieder in ihr schrilles Lachen aus. Sie schien ein sehr heiteres Gemüt zu haben.
„Ganz einfach. Mit Zauberei. Schon vergessen? Ich bin eine Hexe“, antwortete sie, nachdem sie sich endlich wieder beruhigt hatte.
Tim ließ seinen Blick durch den Saal schweifen. Da stand eine riesige Tafel mit zahlreichen Stühlen. Gut und gerne 50 Personen hätten an ihr Platz gefunden. An den Wänden hingen mächtige Schilde mit verschiedenen Wappen und auch Speere und Schwerter. Sie sahen aus, als hätten ihre Besitzer sie nur rasch zum Essen hingehängt und würden bald zurückkommen um sie abzuholen und hinauszuziehen in den nächsten Kampf. Weiter oben hingen große Gemälde, die allesamt mythische Landschaften und Gestalten in seltsamen Gewändern zeigten – und bei weitem nicht alle davon sahen menschlich aus.
Lunaris schüttelte den Kopf.
„Nein! Das ist nicht gut. Das ist mein offizieller Empfangssaal für Zaubererversammlungen. Aber für unser Treffen ist er wohl doch ein bisschen zu groß – und vor allem entschieden zu förmlich.“
Sie zog einen goldenen Zauberstab aus ihrem Kleid und wedelte damit durch die Luft. Ein Augenzwinkern später standen die Kinder in einer gemütlichen kleinen Stube. Im offenen Kamin knisterte ein kleines Feuer, und der Duft nach frischen Keksen und Tee stieg den Dreien in die Nase. Tatsächlich stand auf einem Tisch mitten im Raum ein Tablett mit allerlei Leckereien die so verführerisch rochen, dass Tim und Finn sofort darauf zu stürzten. Als Lunaris auffordernd nickte, begannen sie, die Kekse in sich hineinzustopfen.
Lucy hingegen blickte sich in der Stube um. Ihr Blick glitt über die hölzernen Möbel hinweg, die alle uralt wirkten: Eine Kommode, ein Kasten, eine Bank nahe beim Kamin, der Tisch und ein paar Stühle. Die Fenster waren rund und mit bunten Vorhängen geschmückt. Die Wände wurden von zahlreichen Bildern geziert, Gemälden aber auch Fotos.
Lucy trat näher heran und betrachtete die Bilder aufmerksam. Wie auf den Gemälden im großen Saal waren auf ihnen seltsam gekleidete Gestalten zu sehen und auch einige Wesen, die eindeutig nichtmenschlich waren.
Und dann entdeckte das Mädchen auf einem Gruppenfoto plötzlich sich selbst. Diese Lucy war älter, vielleicht 15, sie trug ein wunderbares, gold schimmerndes Kleid und ein feuerrotes Cape lag um ihre Schultern. Ihr Haar war hochgesteckt und ein goldener Reif zierte es. In der Hand trug sie einen Zauberstab mit einem kleinen Stern an der Spitze. Sie lächelte – und sie sah, so fand Lucy, sehr gut aus.
Neben ihr stand Tim – er war ebenfalls einige Jahre älter – 18 vielleicht. Er trug ein tiefschwarzes Gewand und sah sehr ernst drein. In seinen Augen schimmerte ...!
Lucy fragte sich unwillkürlich, was Tim in diesen Jahren wohl erlebt hatte – er wirkte, als habe er das Lachen verlernt, als nehme er das Leben unendlich schwer. Er war irgendwie dunkler und schien ein wenig gebeugt, so als laste eine schwere Verantwortung auf ihm – oder eine große Schuld? Lucy hatte auf ein Mal das Gefühl ihn trösten zu müssen. Instinktiv streckte sie die Hand aus, um ihm über das Gesicht zu streichen. Doch plötzlich wurde der Tim auf dem Bild lebendig und wich hastig vor ihrer Berührung zurück. Lucy ließ erschrocken die Hand sinken. Sofort erstarrte Tim in seiner ursprünglichen Haltung.
„Träume ich?“ murmelte das Mädchen.
Ihr Blick fiel auf ihren jüngeren Bruder. Er stand in der zweiten Reihe: der lebenslustige, immer lachende Finn. Auch er war älter, doch er hatte sich kaum verändert. Der Schalk blitzte in seinen Augen. Er trug einen verwegen aussehenden Hut und ein schimmerndes Gewand, das aus silbernen Schuppen gemacht zu sein schien. Er wirkte aufgeregt, so als erwarte ihn ein wunderbares Abenteuer.
Lucy stand da und starrte das Foto fassungslos an.
Da fühlte sie plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Lunaris war lautlos hinter sie getreten.
„Wie ist das möglich?“, fragte Lucy.
Sie konnte den Blick nicht von dem Bild nehmen. Plötzlich erspähte sie darauf auch Lunaris. Die Hexe sah unverändert aus. Ihre Augen funkelten fröhlich – nur ihr Gewand war etwas weniger bunt. Die übrigen Leute und ... was für Wesen auch immer sonst noch auf dem Bild waren, kannte Lucy nicht. Doch die ganze Gruppe wirkte als sei sie sich sehr vertraut, ja als sei das ein Abschiedsfoto von Freunden, die sich trennen mussten und eine Erinnerung an die gemeinsame Zeit mitnehmen wollten.
„Wann wurde dieses Bild gemacht? Oder sollte ich besser fragen – wann wird es gemacht ...?“, fragte Lucy.
Lunaris nickte anerkennend.
„Du bist ein sehr kluges Mädchen. Die Zeit ist nicht so geradlinig, wie sie den Menschen erscheint. Gestern, heute, morgen – dieser Ablauf gilt nur für die Normalsterblichen als unumstößlich. Wir Zauberwesen wissen es besser. Du musst dir die Zeit wie einen großen Strom vorstellen, der zwar in eine Richtung fließt, der aber auch Seitenarme ausbildet – und mancher davon kehrt um und flutet zurück.
Dieses Foto: Es existiert und doch auch wieder nicht.
Es ist gemacht, nachdem eine große Gefahr abgewendet wurde – aber wird es überhaupt gemacht werden können? Denn schon beginnt sich die Geschichte zu verändern. Sieh her – gestern sah das Foto noch so aus.“
Sie wedelte mit ihrem Zauberstab.
Zuerst konnte Lucy keine Veränderung erkennen – bis ihr Blick auf Tim fiel. Er sah plötzlich fröhlicher aus, heller, unbeschwerter.
„Was bedeutet das?“, fragte Tim.
Er war unbemerkt zu ihnen getreten und hatte gerade noch gesehen, wie sich sein Abbild veränderte. Finn kam nun ebenfalls herbei, starrte mit offenem Mund auf das Foto und hörte für einen Moment sogar auf, an seinem Keks zu knabbern.
Das Bild kehrte in seinen ursprünglichen Zustand zurück – der fröhliche Tim machte dem düsteren Tim Platz.
Miranda Lunaris seufzte.
„Das sind die Folgen der letzten Nacht! Deine Begegnung mit – sie zögerte kurz – dem Mann bei der Satansvilla, ist nicht spurlos an dir vorübergegangen“, sagte die Hexe traurig. „Es hätte nie dazu kommen dürfen. Und es ist auch meine Schuld, dass er dich beinahe ...“.
Sie brach ab und deutete auf die Stühle rund um den Tisch.
„Setzt euch. Wir haben viel zu bereden.“
Tim nickte.
Er wischte sich über die Augen – als wollte er dunkle Erinnerungen vertreiben.
„Der Mann wird wiederkommen!“, sagte er, als er auf seinen Sessel sank.
Lunaris sah in lange und aufmerksam an.
Dann nickte sie.
„Ja,.das wird er. Ich sehe du erinnerst dich an ihn und das ist erstaunlich. Fast noch erstaunlicher als die Tatsache, dass du überhaupt noch am Leben bist – und dass du du selbst bist. Es wohnen große Kräfte in dir. Vielleicht bist du sein gefährlichster Gegenspieler.“
Sie sprang von ihrem Stuhl auf und begann unruhig rund um den Tisch zu laufen.
„Ich könnte mich ohrfeigen, denn durch meine Nachlässigkeit wäre es ihm beinahe gelungen dich zu erwischen. Ich hätte viel früher da sein müssen ... Aber ich wurde aufgehalten!“
Es war eher ein Selbstgespräch, das sie nun führte.
Ruckartig blieb sie stehen und sah die Kinder der Reihe nach an.
„Doch egal. Es ist ja noch einmal gut gegangen – einigermaßen zumindest. Und er ist noch nicht so stark, um sich in einem offenen Duell mit mir zu messen. Das gibt Hoffnung. Wir haben noch Zeit, auch wenn sie knapp werden wird – denn ich alleine werde wenig gegen ihn ausrichten können, bis ihr zurückkommt!“
Die drei Kinder starrten sie verwirrt an.
„Verreisen wir denn?“, fragte Lucy.
Die Hexe lächelte und nickte.
„Ja, aber alles der Reihe nach! Zuvor muss ich Euch die ganze Geschichte erzählen. Und ich muss mich damit beeilen, denn es wird schon Nacht. Und es ist nicht gut wenn man in der Dunkelheit über diese Dinge spricht.“
Die Kinder starrten nach draußen.
War schon so viel Zeit vergangen?
Tatsächlich stand die Sonne schon sehr tief am Himmel und die Schatten der Nacht, die am Horizont heraufzogen, schienen mit langen, gierigen Fingern nach dem Häuschen zu greifen. Tim runzelte die Stirn. Was würde ihre Mutter sagen, wenn sie so spät heimkamen?
Die Kinder fröstelten plötzlich.
Es war kühl geworden in dem kleinen Raum.
Auch Miranda Lunaris schien es zu bemerken. Sie schnippte mit den Fingern und schon loderten die Flammen im Kamin höher. Rasch breitete sich heimelige Wärme aus.
„ER“, sagt die Hexe unvermittelt, „ist das Böse!“
Die Worte hingen wie eine dunkle Wolke im Zimmer. Lange war es völlig still. Tim war es, als sei die Zeit eingefroren. Dann endlich sprach Miranda weiter:
„Der Kampf den wir führen ist beinahe so alt wie die Welt. Das Dunkle und das Helle, das Gute und das Böse liegen in ewigem Widerstreit. Das Böse will die Weltherrschaft erringen. Es hat es zu allen Zeiten versucht und in den unterschiedlichsten Gestalten. Vor einigen Jahrhunderten hat es einen willigen Diener gefunden. Es war ein hoffnungsvoller junger Zauberer, aber er hat sich verführen lassen – und inzwischen sind sie eins geworden, das Böse und er. Unzertrennbar! Er nennt sich Malvagas und seine Macht ist groß. Oft war er dem Sieg und somit der Herrschaft über die Welt schon sehr nahe - zuletzt vor 65 Jahren.“
Tim runzelte schon wieder die Stirn?
„Vor 65 Jahren?!“
Die Hexe nickte.
„Aber damals herrschen die Nazis. Willst du damit sagen, dass Hitler nur eine Marionette dieses Malvagas war?“, fragte der Junge zweifelnd?
Jetzt schüttelte die Hexe heftig den Kopf.
„Oh nein! Natürlich wäre das für die Menschen eine bequeme Ausrede, aber so einfach ist es nicht. Hitler wusste genau was er tat, denn jeder Mensch trägt die Fähigkeit in sich, zwischen Gut und Böse zu entscheiden. Hitler, Mussolini, Stalin und wie die Diktatoren alle hießen - sie haben selbst gewählt! Aber natürlich sind Gewaltherrscher – ohne es zu ahnen – seine effizientesten Diener. Sie erliegen seinen Verlockungen - und spielen ihm in die Hände. Und es ist große Macht, die er anzubieten hat.
Tatsächlich fanden damals zwei Kriege statt. Einer in der Menschenwelt. Der zweite, magische Krieg tobte unbemerkt von den Menschen. Zuletzt haben wir ihn gewonnen und Malvagas Horden zurückgeschlagen. Aber war es wirklich ein Sieg für die helle Seite? Ihr wisst, mit welchen Mitteln der Krieg in der Welt der Menschen gewonnen wurde – mit schrecklichen Vernichtungswaffen die nie hätten geschaffen werden dürfen. Und auch wir taten in diesem Kampf Dinge, die nie hätten getan werden dürften. Wir gewannen – doch beinahe um den Preis der Selbstaufgabe. Es wurden Zauber gewirkt, die großen Schaden anrichteten: böse Zauber für die gute Sache.“
Sie seufzte tief.
„Manchmal denke ich, dass alles was wir tun sinnlos ist. Denn jeder Krieg, in den er uns verwickelt, kostet uns ein Stück unserer eigenen Seele, macht uns selbst dunkler. Aber was bleibt uns, als den Kampf immer wieder aufs Neue zu führen. Wir können doch auch nicht einfach die Hände in den Schoß legen und zusehen, wie er diese Welt zu einem dunklen, grausamen Ort macht.“
Lunaris seufzte nochmals.
„Der Kampf, damals, vor 60 Jahren, hat vielen unserer besten Zauberer das Leben gekostet. Ihr Daseinsfunke wurde so gründlich ausgelöscht, dass wir sie nicht mehr zurückholen konnten. Aber zuletzt haben wir Malvagas gefangen - und wir haben ihn in den Stein der tausend Qualen verbannt!“
Tim fuhr empor.
„Aber ...!“
Er erinnerte sich plötzlich wieder. „Dieser Stein das …!“
„Ja!“, die Hexe nickte. „Das ist jener Stein, in den er dich nun sperren wollte. Malvagas ist die Flucht gelungen, nach kaum zwanzig Jahren. Das war etwas, was wir für völlig unmöglich hielten. Doch wir hatten einen Denkfehler begangen. Das Gefängnis, das uns so schrecklich und unüberwindlich erschien, war es gerade für ihn nicht.“
„Was ist dieser Stein? “, fragte Tim.
„Die Frage muss nicht lauten, was er ist, sondern was er tut. Er zersplittert das Bewusstsein und lässt jeden einzelnen dieser Teile unaufhörlich die dunkelsten Augenblicke seines Lebens immer und immer wieder erleben. Tausendfache Qual, die jedes Wesen in den Wahnsinn treibt. Und schafft es der Stein nicht es zu zerbrechen, dann schaffen es all die verrückten Bewusstseinssplitter, die inzwischen in ihm herumgeistern. Die Verbannung in den Stein ist wahrlich eine schreckliche Strafe. Doch was wir dabei übersehen hatten war, dass Malvagas selbst nur dunkle Gedanken hegt und dass er an seinen schrecklichsten Taten Gefallen findet. Für ihn waren seine dunkelsten Taten keine Qual sondern eher ein Labsaal. Der Stein konnte ihm nichts anhaben. Malvagas sammelt Kraft und nach zwanzig Jahren gelang es ihm schließlich seinem Gefängnis zu entfliehen. Wir hatten ihm zur Buße für seine Taten die schlimmste aller denkbaren Strafen zugedacht und ihm dabei in die Hände gespielt. Hätten nicht eine Hexe und ein Zauberer Verdacht geschöpft und den Stein bewacht – wir hätten Malvagas Flucht vermutlich nicht rechtzeitig bemerkt. Doch sie waren zur Stelle, in der Nacht in der er zurückkam und sie stellten ihn – an den Ufern eines Sees. Es war ein harter, erbitterter Kampf. Er hatte nicht mit Wächtern gerechnet und war daher nicht vorbereitet. Aber auch so gelang es der Hexe und dem Zauberer nur ihn zu besiegen, indem sie sich selbst opferten. In einem einzigen Augenblick verströmten sie ihre gesamte Zauberkraft. Es war eine gewaltige Eruption von weißer Magie, die Malvagas völlig unvorbereitet traf. Er wurde hinweggefegt und zersplittert. Sein Wesen verstreute sich – und er brauchte Jahrzehnte um sich neu zu manifestieren. Vermutlich war er der völligen Auslöschung nie näher, als in jenem Augenblick.
Aber der Preis, den die gute Seite zahlte, war hoch. Jene beiden, die sich da geopfert hatten, waren zwei unserer mächtigsten und weisesten Magier gewesen. Ihr Verlust traf uns schwer. Von ihrer Essenz ist nichts geblieben. Wir konnten sie nicht einmal mehr als Geister zurückholen. Für die Menschen erfanden wir eine andere Erklärung für die Geschehnisse am See. In ihren Zeitungen stand, dass ein Mann und eine Frau bei einem tragischen Unfall ertrunken seien.“
Tim keuchte plötzlich auf.
„Unsere Großeltern. Sie sind in einem See ertrunken!“, rief er.
Die Hexe sah ihn anerkennend an. „Du hast eine sehr rasche Auffassungsgabe. Ja, es waren deine Großeltern. Sie fochten damals ihren letzten großen Kampf! Sie haben uns alle gerettet – zumindest für eine Weile.“
Tim musste sich erst einmal setzen, um diese Neuigkeit zu verdauen.
„Und unser Vater weiß das alles?“, fragte der Junge schließlich und sah der Hexe dabei in die Augen.
Sie sagte nichts, blickte ihn nur an und nach einer Weile schüttelte Tim den Kopf und gab sich selbst die Antwort auf seine Frage. „Nein, er hat keine Ahnung davon. Er glaubt wirklich, dass seine Eltern ertrunken sind.“
Dem Jungen schwirrte der Kopf. Was er soeben erfahren hatte, musste er erst einmal verdauen. Seine Großeltern waren Magier gewesen – und sie waren nicht verunglückt, wie sein Vater das immer geglaubt und auch immer erzählt hatte, sondern im Kampf gegen das Böse schlechthin gefallen. Irgendwann, so schwor sich Tim in diesem Augenblick, würde er seinem Vater die Wahrheit erzählen.
„Warum hat Vater eigentlich keine Zauberkräfte?“, fragte Lucy.
Jetzt zuckte die Hexe mit den Achseln.
„Magie wird nicht einfach vererbt. Sie ist da, oder auch nicht! Ehrlich gesagt, wir wissen nicht, warum dieses Geschöpf sie besitzt, jenes aber nicht. Es ist allerdings äußerst ungewöhnlich, dass sie in einer Familie in zwei Generationen auftreten – und es ist noch ungewöhnlicher, dass mehrere Personen gleichzeitig Zauberkräfte haben. Genau genommen gab es das bisher noch nie. Ihr seid in jeder Hinsicht erstaunlich.“
„Wie viele Zauberer und Hexen und Magier gibt es?“, fragte Lucy weiter.
„Viel zu wenige auf dieser Welt. Leider. Wir verlieren im Kampf mit Malvagas mehr als geboren werden – manchmal müssen wir drei oder vier Menschengenerationen warten, bis endlich wieder ein magisches Geschöpf in dieses Dasein tritt.“
Lunaris schüttelte traurig den Kopf.
„In den letzten fünfhundert Jahren wurden nur 20 geboren – euch drei mitgerechnet!“
Tim war hellhörig geworden. „Was heißt auf dieser Welt? Wie viele Welten gibt es sonst noch. Und was ...“
Miranda Lunaris stoppte seinen Eifer mit einer kurzen Handbewegung.
„Alles zu seiner Zeit. Jetzt gibt es Wichtigeres. Wir müssen Malvagas stoppen.“
„Ja, hauen wir ihm die Hucke voll und stecken wir ihn diesmal in den Stein der Glückseligkeit. Falls es den überhaupt gibt, müsste er ihn doch in den Wahnsinn treiben, aber das wäre nur die gerechte Strafe. Er hat meine Großeltern auf dem Gewissen – und das nehme ich sehr persönlich“, rief Finn.
Er war der Praktiker in der Familie, er kaute nicht lange an dem herum, was geschehen war, sondern wandte sich dem zu, was es als Nächstes zu tun gab. Außerdem hatte er inzwischen alle Kekse aufgegessen und steckte nun offenbar voll Tatendrang.
Lunaris lächelte.
„So einfach ist das nicht, mein kleiner Freund! Doch du hast Recht. Es ist Zeit zu handeln. Und das werde ich. Malvagas plant irgendeine Teufelei – und ich muss herausfinden welche. Ihr hingegen – ihr geht vorerst einmal zur Insel des Erwachens!“
Die Kinder sahen sie erstaunt an.
„Insel des Erwachens? Wo ist das – und was sollen wir dort?“, fragte Lucy.
„Ich kann die Magie in euch spüren. Doch sie schlummert noch – ihr könnt sie noch nicht nutzen. Jeder Zauberer, jede Hexe, jeder Faun, jede Fee muss zuerst an den Ort des Erwachens und ein Ritual vollführen. Auch ihr müsst dort hingehen, erst dann werdet ihr bereit sein für die große Auseinandersetzung. Ich werde inzwischen versuchen Malvagas nicht zu stark werden zu lassen. Und wenn ihr zurückkommt, werden wir ihn mit vereinten Kräften bezwingen. Seid ihr bereit mir zu helfen?“
Die drei Kinder sahen sich an und nickten dann.
„Ich denke, dass wir gar keine andere Wahl haben“, sagte Tim.
„Ich bin dabei“, sagte Lucy.
„Offenbar wird hier ein Held gebraucht“, erklärte Finn.
Miranda Lunaris warf den Kindern einen Blick zu in dem Stolz und Zuneigung schimmerte.
„Ich danke Euch. So und jetzt seht zu, dass ihr nach Hause kommt.“
„Nach Hause? Ich denke wir sollen zur Insel des Erwachens?“, fragte Lucy erstaunt.
Die Hexe nickte.
„Das sollt ihr auch. Aber dabei kann ich euch nicht helfen, ihr müsst eure eigenen Wege finden. Doch verliert keine Zeit!“, sagte sie.
Die Kinder starrten sie ratlos an.
Miranda Lunaris zwinkerte ihnen aufmunternd zu.
„Fühlt in Euch hinein und ihr werdet es wissen.“
Die Hexe öffnete die Tür des Häuschens, um die Kinder hinauszulassen.
Sie traten hindurch und standen plötzlich auf der Rückseite des kleinen Gebäudes.
Vorne hörten sie ... ihre eigenen Stimmen ... hörten die Unterhaltung, die sie geführt hatten, als sie ankamen.
Die Hexe zwinkerte ihnen zu. „Wie gesagt, die Zeit ist nicht immer, was sie zu sein scheint! Und nun geht. Ihr hört ja, ich bekomme Besuch und ich muss meine Gäste empfangen. Wir werden uns wieder sehen – irgendwie ... irgendwann!“
Die Kinder wollten sich auf den Weg machen.
Doch die Hexe rief sie noch einmal zurück.
„Halt. Fast hätte ich etwas vergessen“, sagte Lunaris.
Sie gab jedem von ihnen eine Packung Kaugummi.
„Super!“, rief Finn. „Meine Lieblingssorte noch dazu!“
Er wollte ihn sofort auspacken.
Doch die Hexe hielt ihn zurück.
„Noch nicht. Das ist Zauber-Gum. Bevor ihr abreist kaut ihn und formt eine Blase – der Rest geschieht von allein. Eure Eltern sollen doch nicht merken, dass ihr fort seid, vor allem aber Malvagas nicht. Vielleicht können wir ihn auf diese Weise täuschen - eine kleine Weile zumindest. Er wird mit großer Magie rechnen, nicht mit so einem kleinen Taschentrick. Und jetzt fort mit Euch.“
Die Kinder gingen.
Tim blickte noch einmal kurz zurück.
Miranda Lunaris schaute ihnen nach.
In ihrem Gesicht las er große Sorge.
Tim lag wach im Bett.
Er dachte an die Worte der Hexe.
„Ihr müsst Euren eigenen Weg finden. Doch verliert keine Zeit!“
Zwei Tage war das nun her und Tim kam die ganze Begegnung allmählich vor wie ein Traum. Er war gleich am Sonntag wieder unten bei den drei Eichen gewesen – doch da war kein Haus mehr. Was noch seltsamer war: Seine Mutter konnte sich nicht an den Besuch von Miranda Lunaris erinnern. Hätten Lucy und Finn nicht all das ebenfalls erlebt, Tim hätte wohl begonnen, an seinem Verstand zu zweifeln. Der Junge hatte seinen Geschwistern nicht erzählt, dass das Haus verschwunden war. Er wollte sie nicht beunruhigen.
Tim drehte oft den Zauberkaugummi in den Händen und ein paar Mal war er schon versucht gewesen, ihn auszupacken und in den Mund zu stecken - nur um zu sehen was passierte. Doch er hielt sich zurück. Lunaris hatte gesagt, dass sie das erst vor ihrer Abreise tun sollten.
Das Dumme daran war, dass der Junge noch immer nicht die geringste Ahnung hatte, wie er abreisen sollte – und wohin. Wo lag die Insel des Erwachens? Tim hatte vergeblich das Internet befragt und sogar den Globus Zentimeter für Zentimeter abgesucht, jedes winzige Eiland unter der Lupe betrachtet. Eine Insel des Erwachens gab es nicht – nicht auf diesem Planeten.
„Fühlt in Euch hinein und ihr werdet es wissen“, hatte die Hexe gesagt.
„Die hat leicht reden!“, murmelte Tim ärgerlich.
Er konnte nicht schlafen. Seit seiner Begegnung mit dem Fremden – konnte er sich nicht mehr richtig fallen lassen, er hatte Angst vor Albträumen in denen der unheimliche Mann ihn heimsuchte. Tim lag da und grübelte. Er hatte das Gefühl, dass ihm die Zeit zwischen den Fingern zerrann. Er wusste, der Unbekannte konnte jederzeit zurückkehren und eine neuerliche Begegnung zwischen ihnen würde nicht so glimpflich für ihn enden, wie die erste.
Tim dachte an diesen winzigen Moment, als ihm der Fremde plötzlich so vertraut erschien. Was war es gewesen? Ein Blick, eine Handbewegung, ein Zug in seinem Gesicht ...? Der Junge kam einfach nicht darauf. Er wollte sich auch nicht zu viel auf Malvagas konzentrieren – um nicht womöglich dessen Aufmerksamkeit verfrüht auf sich zu lenken. Ohnehin hatte Tim ständig das ungute Gefühl beobachtet zu werden. Er traute sich kaum noch in den Spiegel zu schauen – aus Sorge der andere könnte ihm wieder daraus entgegen starren.
Tim seufzte.
An Schlaf war nicht zu denken, also beschloss er sich abzulenken und nahm einen Roman zur Hand.
Star Trek. Die Abenteuer von Captain James T. Kirk waren schon von jeher seine Lieblingslektüre gewesen und natürlich hatte er auch schon alle Fernsehfolgen und Kinofilme gesehen. Kirk war stark und mutig – und er gewann immer.
„Was würde der Captain in so einer Situation wohl tun?“ fragte sich Tim.
Irgendwann schlief er dann doch ein.
Ein Piepsen weckte ihn. Tim war einen Augenblick lang desorientiert, dann begriff er, dass er in seinem Bett lag. Das Buch war ihm aus der Hand geglitten und zu Boden gefallen.
Das Piepsen kam aus dem Schrank mit seinen alten Spielsachen. Tim verwendete die meisten von ihnen nicht mehr, war ihnen längst entwachsen. Er hatte sich aber noch nicht dazu durchringen können, sie alle wegzuwerfen, obwohl seine Eltern es schon ein paar Mal verlangt hatten.
Der Junge schwang die Beine aus dem Bett und ging zum Schrank.
Was war das für ein Geräusch?
Tim öffnete die Tür und das Piepsen wurde noch lauter. Der Junge versuchte herauszufinden, woher aus dem vollgestopften Kasten es kam. „Ich sollte tatsächlich einmal aufräumen“, gestand er sich selbst ein. Tim kramte und kramte. Dann hatte er den Verursacher des Geräusches gefunden, ganz unten in einer Schachtel. Es war ein kleiner Star-Trek-Kommunikator – so wie Kirk ihn im Film benutzte. Er hatte das Ding einmal bei einer Star-Trek-Wanderausstellung von seinem Vater geschenkt bekommen, der auch ein begeisterter Science-Fiction Fan war. Der Kommunikator war aus Plastik. Wieso konnte es also plötzlich piepsen?
„Ganz klar!“, dachte Tim, „ich träume noch“. Er nahm das Gerät zur Hand und starrte darauf hinunter. Es sah plötzlich so verdammt echt aus und fühlte sich auch gar nicht mehr nach Plastik an. Dann wusste Tim was er zu tun hatte.
Er hatte seinen Weg gefunden.
Der Junge warf einen schnellen Blick hinüber zu seinem Bruder. Finn lag im Bett und schlief tief und friedlich.
Tim zuckte mit den Achseln.
Rasch nahm er seinen Reise-Rucksack und stopfte ein paar Kleidungsstücke hinein.
Er wollte auch noch ein paar Zeilen an seine Eltern schreiben, damit sie sich keine Sorgen machten – doch dann fiel ihm gerade noch rechtzeitig ein, dass sie ja nicht erfahren durften, dass er weg war. Plötzlich fiel Tim der Abschied unendlich schwer.
Der Junge seufzte. Er hätte sich wirklich gerne von seinen Eltern verabschiedet. Kurz überlegte er, ob er nicht doch Finn aufwecken und ihm sagen sollte, dass er sich auf den Weg machte. Doch dann ließ er es. Tim war sich sicher, dass seine Geschwister auch ohne ihn zurechtkommen würden. Er würde sie bestimmt bald wiedersehen – auf der Insel des Erwachens. Für ihn war es wichtig, ohne jedes Aufsehen zu verschwinden.
Tim kramte in seiner Hosentasche und fischte den Zauberkaugummi heraus. Er steckte ihn in den Mund und begann zu kauen. Es dauerte einige Minuten, bis der Gummi so weich war, dass Tim ihn zu einer Blase formen konnte.
Klatsch!
Sie zerplatzte und der Kaugummi klebte ihm im Gesicht.
Tim knurrte ärgerlich. Genau das hatte er befürchtet. Kaugummi-Blasen waren noch nie seine Stärke gewesen. Er brauchte geschlagene fünfzehn Minuten und ein Dutzend missglückter Versuche – dann gelang es ihm endlich, eine halbwegs normale Blase zu formen, die nicht sofort zersprang. Stattdessen begann sie plötzlich ganz alleine zu wachsen. Tim spuckte sie vor Verblüffung aus und sah dann mit offenem Mund zu, wie sie größer und größer wurde. Als sie so groß war, wie er selbst war, bildete sie einen Kopf, ein Gesicht, einen Körper, Arme und Beine aus - und es dauerte nicht lange, da sah sich der Junge seinem perfekten Doppelgänger gegenüber.
Tim klappte den Mund zu.
Das musste er erst mal verdauen.
Ein Double aus Kaugummi.
Der andere Tim grinste ihn an.
„Hallo!“ sagte er.
„Hallo!“, antwortete Tim ganz automatisch.
Er ging hin und kniff den anderen in den Arm.
„Autsch!“, schrie der Kaugummi-Tim und kniff nun seinerseits Tim in den Arm.
„Autsch!“, schrie auch der.
Dann standen sie sich gegenüber und musterten sich schweigend.
„Stell bloß keinen Unsinn an, während ich fort bin“, sagte Tim schließlich mahnend. Irgendwie kränkte es ihn ein wenig, dass er so leicht durch einen Kaugummi zu ersetzen sein sollte.
„Nicht mehr als du selber anstellen würdest“, antwortete der Doppelgänger.
Das beruhigte Tim nicht wirklich.
„Und pass in der Schule auf. Ich möchte nicht plötzlich lauter schlechte Noten bekommen!“ Tim staunte über sich selbst. Was quatschte er da eigentlich? Er klang ja fast wie seine Mutter.
„He! Du redest wie unsere Mutter!“, beschwerte sich auch der Kaugummi prompt.
„Meine Mutter!“, betonte Tim. „Meine Mutter. Du“ – er tippte seinem Doppelgänger mit dem Zeigefinger gegen die Brust, „bist nur ein Kaugummi!“
Tim schüttelte den Kopf.
„Man stelle sich das vor. Ein Kaugummi geht statt mir in die Schule!“
Er musste sich an diesen Zauberkram erst noch gewöhnen.
Dann grinste er plötzlich. Wenn die Lehrer wüssten …
Tim warf einen Blick auf die Uhr.
Es war Mitternacht.
Eine gute Zeit, um abzureisen.