Grabgeflüster

 

„Ich nehme diesen Sarg!“, sagte ich und hörte dieselben Worte zeitgleich aus dem Mund einer Frau mir gegenüber.

Der Verkäufer sah uns bedauernd an. „Dieses Modell ist leider ein Unikat“, erklärte er.

Normalerweise hätte ich nun sofort Abstand vom Kauf genommen und der Frau den Vortritt gelassen, denn ich bin nach altmodischen Regeln erzogen worden. Doch in meinem Leben war schon lange nichts mehr normal. Und ich wollte diesen Sarg. An den Rändern war ein seltsames Muster eingraviert, das mich an Runen erinnerte. Gerade diese geheimnisvollen Zeichen waren es, die mich so faszinierten – vielleicht würden sie ja böse Geister vom Leichnam fernhalten oder zumindest die Würmer.

Ich schaute zu der Frau hinüber und las in ihrem Gesicht, dass auch sie nicht einfach verzichten würde. Also ging ich um den Sarg herum und streckte ihr die Hand hin. Sie sah gut aus, hatte kurzes, brünettes Haar, feine Züge und ein hinreißendes Lächeln – das allerdings müde wirkte. Die Frau war etwa in meinem Alter und sehr hager, fast schon zu hager. Weit hinten in ihren blauen Augen schimmerte eine tiefe Traurigkeit und ich begriff, dass sie den Sarg nicht für einen verstorbenen Verwandten haben wollte, sondern für sich selbst. Genau wie ich.

„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte ich. „Wer von uns zuerst stirbt, bekommt den Sarg.“ Sie war nicht überrascht. Offenbar hatte auch sie die kleinen versteckten Zeichen an mir wahrgenommen, die auf eine unheilbare Krankheit hindeuteten. Wenn man nur noch wenig Leben übrig hatte, wurden die Sinne schärfer und man lernte genau hinzuschauen.

Sie zögerte einen Moment, dann ergriff sie meine Hand und nickte. Wir gaben dem Verkäufer unsere Namen und Adressen und verließen den Laden. Draußen auf der Straße sahen wir uns ein wenig ratlos an. Die Frau gefiel mir ausgesprochen gut. Wäre sie nicht so dünn gewesen, hätte ich sie als atemberaubend bezeichnet. Ich gab mir einen Ruck. „Da wir jetzt auf gewisse Weise Geschäftspartner sind, könnten wir uns doch ein wenig näher kennen lernen. Darf ich Sie auf einen Kaffee einladen?“ fragte ich. Sie sah mich durchdringend an und nickte dann. Wenig später saßen wir uns an einem kleinen Tisch gegenüber.

„Wie lange haben Sie noch?“, fragte sie mich direkt und ungeniert.

„Sie wollen wohl herausfinden, wie gut Ihre Chancen auf den Sarg sind?“, sagte ich lächelnd.

Sie schmunzelte und nickte.

„Zwei Monate“, antwortete ich schließlich und plötzlich klang meine Stimme sehr brüchig.

„Ich auch“, antwortete sie überrascht und grinste: „Das wird ein enges Rennen.“

Ich schaute sie an. Trotz ihres nahen Todes hatte diese Frau weder ihren Humor noch ihre Lebensfreude verloren. Ich fand sie bezaubernd und mir schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass ich vor dem Ende gern noch einmal Sex gehabt hätte. Plötzlich griff sie über den Tisch und nahm meine Hand. „Ich habe keine Zeit mehr für lange Vorreden. Ich bin ungebunden. Wenn du das auch bist, könnten wir zu mir gehen“, sagte sie. Ich schluckte, aber dann lächelte ich. Sie hatte ja recht. Zeit war für uns Luxus. Wir mussten jeden Augenblick nutzen. Ich rief den Kellner und zahlte. Wir gingen zu ihr und sie führte mich direkt ins Schlafzimmer. Dort reichte sie mir plötzlich sehr förmlich die Hand. „Bevor wir miteinander ins Bett gehen, sollten wir uns doch offiziell vorstellen“, sagte sie. „Ich heiße Hannah.“

Ich beugte mich vor und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. Wenn schon förmlich, dann  richtig. „Ich bin Tom“, sagte ich.

Sie zog sich den Pulli über den Kopf und grinste schon wieder – doch diesmal bitter: „Wir brauchen übrigens kein Präservativ. Gebärmutterkrebs ist als Verhütungsmethode todsicher“, sagte sie.

 

Am nächsten Tag erwachte ich in ihrem Bett. Hannah schlief noch. Ich lauschte auf ihre gleichmäßigen Atemzüge und spürte jenes warme Kribbeln in meinem Bauch, das ich fast schon vergessen zu haben glaubte. Es war grotesk. Jetzt wo mein Leben in seine Zielgerade eingebogen war, hatte ich mich nochmals verliebt. Für ein paar Stunden hatte ich in dieser Nacht sogar vergessen, dass mich der Krebs von innen her auffraß. Doch in diesem Augenblick rief er sich in Erinnerung. Ich krümmte mich, atmete tief aus und ein und wartete, bis der stechende Schmerz etwas abebbte. Dann stieg ich aus dem Bett, ging zu meiner Jacke und holte meine Tabletten heraus. Ich nahm zwei Stück und spülte sie im Bad mit einem Glas Wasser hinunter. Bald würde ich die Dosis erhöhen müssen und früher oder später hatte der Arzt mich gewarnt würden die Pulver überhaupt nicht mehr helfen. Wenn ich Glück hatte, starb ich zuvor.

„Was ist es?“, fragte Hannah, als ich ins Schlafzimmer zurückkam. Sie war aufgewacht und hatte sich im Bett aufgesetzt.

„Bauchspeicheldrüse!“, sagte ich und fügte hinzu: „Schöne Scheiße!“

Sie nickte. „Ja, schöne Scheiße!“ bekräftigte sie.

Wir tauschten unsere Krankengeschichten aus. Viel zu sagen gab es da ohnehin nicht. Der Krebs war bei uns beiden zu spät entdeckt worden und hatte Metastasen gebildet. Operation unmöglich! Die Chemotherapie schlug nicht an, also hatten wir sie beide abgebrochen, um unsere letzten Monate oder Wochen wenigstens in Würde verbringen zu können – und vor allem mit Haaren.

„Warum bist du allein?“, fragte mich Hannah.

Ich musste lachen. „Oh. Das ist die ganz klassische Geschichte. Ich war zehn Jahre mit einer Frau zusammen. Dann habe ich sie erwischt, als sie es mit meinem besten Freund trieb.“

„Das klingt hässlich.“

„Es war auch hässlich. Für mich zumindest. Aber die beiden sind immer noch zusammen. Und ich bin …“, ich zögerte, sah sie an und korrigierte mich, „… ich war von den Frauen geheilt. Und du?“

Sie zuckte mit den Schultern.

„Es gab den ein oder anderen – aber nie den Richtigen!“ Sie machte eine kurze Pause und sah mich ernst an. „Bis jetzt.“

Ich erwiderte ihren Blick. Dann beugte ich mich vor und küsste sie.

 

Von diesem Tag an waren wir zusammen.

Es mag paradox klingen, aber die nächsten sechs Wochen waren eine gute Zeit. Vielleicht die beste Zeit meines Lebens. Trotz des Schattens, der über uns schwebte, trotz der Schmerzen, die kamen und gingen, trotz der Angst, trotz der Bitterkeit, der Verzweiflung und der Depressionen, die uns immer wieder heimsuchten – aber zum Glück nie beide zugleich. So gelang es uns, einander immer wieder dem Vorhof der Hölle zu entreißen und aus der Finsternis hinauszuführen in das kümmerliche, aber gerade deswegen so kostbare Licht eines verwehenden Lebens.

 

Wir hatten auch viel Spaß zusammen. Wenn man dem Tod so nahe ist, kann man Dinge tun, die man sich vorher nicht erlaubt hätte. Vor allem darf man makaber sein. Also fotografierten wir uns, schickten  „Vorher-Nachher“-Bilder an Figurella und schrieben dazu: „Krebs: Die todsichere Methode, um schnell und dauerhaft abzunehmen. Garantiert kein Jo-Jo-Effekt!“ Da von der Firma keine Reaktion kam, stellten wir die Fotos auf Facebook und ernteten manch humorvolle, aber auch viele verständnislose und sogar zornige Kommentare.

 

 

Die ganze Geschichte gibt es in "Liebe in Zeiten der Prostata"!